1.September 1939 - 86 Jahre Überfall auf Polen

Der Zweite Weltkrieg – Kapitalismus, Imperialismus und die Weltordnung heute

Der Zweite Weltkrieg war kein Bruch mit der Zivilisation, sondern ihre radikalste Zuspitzung. Ernest Mandel hat ihn als „fünf Kriege in einem“ beschrieben: einen imperialistischen Krieg zur Neuaufteilung der Welt, einen antifaschistischen Befreiungskrieg, einen kolonialen Krieg, einen Partisanenkrieg und zugleich einen Bürgerkrieg in Europa. Diese Vielschichtigkeit zeigt, dass es nicht um ein homogenes Ereignis ging, sondern um die Verdichtung sämtlicher Widersprüche des Kapitalismus im Stadium des Monopols.

Krise und Expansion

Seit dem Ersten Weltkrieg steckte die Weltwirtschaft in Dauerkrise. Deutschland war eine hochproduktive Industrienation, aber ohne Kolonien und durch Versailles geschwächt. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 brachte den entscheidenden Bruch: Exporte stagnierten, die Verschuldung wuchs, die Ausbeutung der eigenen Bevölkerung war ausgereizt. Mandel schreibt: Die einzige „Lösung“ bestand darin, die Produktionsbasis durch Raub und Expansion zu erweitern – also Krieg. Es war keine Laune Hitlers, sondern die Logik eines Systems, das an seinen Grenzen angelangt war.

Traverso hat diesen Prozess als „zweiten Dreißigjährigen Krieg“ beschrieben: 1914 bis 1945 war eine Epoche, in der industrielle Moderne und Barbarei zusammenfielen. Die Rationalität der Fabrik wurde zur Rationalität der Vernichtung. Technik, Verwaltung, Wissenschaft – alles, was einst als Fortschritt galt, verwandelte sich in die Infrastruktur des Massenmords.

Warum der deutsche Imperialismus angriff

Der deutsche Imperialismus griff an, weil er weder ökonomisch noch politisch die Stellung einnehmen konnte, die seiner Produktivkraft entsprach. Der „Lebensraum im Osten“ war nicht nur Ideologie, sondern ökonomisches Programm: Öl, Getreide, Erze und Arbeitskräfte sollten die Basis für ein autarkes Imperium bilden. Die herrschende Klasse – Großindustrie, Militär, Großgrundbesitz – verschmolz mit dem NS-Staat.

Franz Neumann zeigte in Behemoth, dass der NS-Staat kein totalitärer Monolith war, sondern ein Geflecht aus Partei, Kapital, Bürokratie und Wehrmacht. Gerade diese Struktur machte Expansion unausweichlich. Mandel liefert die ökonomische Notwendigkeit, Neumann die konkrete Form. Gemeinsam ergibt sich: Der Angriffskrieg war nicht irrational, sondern die extreme Konsequenz kapitalistischer Logik.

Der Hitler-Stalin-Pakt

Am 23. August 1939 wurde in Moskau das unterzeichnet, was als „Nichtangriffspakt“ firmierte und in Wahrheit die Aufteilung Europas bedeutete. Hitler erhielt freie Hand für Polen, Stalin gewann Zeit und Territorium – das Baltikum, Ostpolen, Bessarabien. Ein geheimes Zusatzprotokoll zog Linien auf der Landkarte, während Wirtschaftsabkommen Deutschland mit sowjetischem Öl, Getreide und Metallen versorgten. Hitlers Blitzkriege gegen Skandinavien und Frankreich fuhren buchstäblich auf sowjetischem Treibstoff. Für kritische Marxisten wie Trotzki war dies nicht bloße Realpolitik, sondern ein Verrat am Internationalismus: Stalin wurde zum Komplizen beim Entfesseln des Weltkriegs. Der Pakt zeigte, dass die Sowjetunion nicht mehr Befreiung, sondern selbst Großmachtpolitik betrieb – eine historische Hypothek, die die Arbeiterbewegung spaltete und die Linke bis heute verfolgt.

Sowjetunion und antifaschistischer Krieg

Mit dem deutschen Überfall wurde die Sowjetunion zum zentralen Akteur im Kampf gegen Nazi-Deutschland. Ohne Stalingrad, ohne Kursk, ohne zwanzig Millionen Tote hätte es keinen Sieg gegeben. Doch die Befreiung Osteuropas brachte neue Abhängigkeiten. Der Stalinismus errichtete autoritäre Regime, die jede Selbsttätigkeit der Arbeiter unterdrückten. Damit wurde die Idee des Sozialismus weltweit diskreditiert. Walter Benjamin schrieb 1940, der Engel der Geschichte sehe keine Fortschrittslinie, sondern Trümmerberge. Der Faschismus war nicht Rückfall, sondern Ausdruck eines Fortschritts, der in Katastrophen mündet.

Holocaust als integraler Bestandteil

Für Mandel war der Holocaust keine „irrationale Anomalie“. Er war materiell, sozial und ideologisch vorbereitet: ökonomische Krise, Zerschlagung der Arbeiterbewegung, Antisemitismus als Bindemittel. Die Vernichtung der Juden war ideologisch und praktisch Teil des Projekts „Lebensraum“ – sie schuf Einheit nach innen und Ressourcen nach außen. Traverso knüpft daran an und zeigt, dass die „Judenfrage“ im Marxismus nicht als Nebensache, sondern als Kristallisationspunkt von Rassismus und Krise begriffen werden muss.

Ressourcen und fossile Kriegsführung

Der Krieg war ein Ressourcenkrieg. Öl, Kohle, Stahl, Getreide – ohne sie keine Armee, kein Panzer, kein Flugzeug. Mandel hebt die deutsche Rohstoffabhängigkeit hervor. Andreas Malm hat diesen Zusammenhang aktualisiert: Fossile Energien waren der Treibstoff des „totalen Kriegs“. Heute erleben wir die Fortsetzung: Konflikte um Öl, Gas und seltene Erden strukturieren die Weltordnung.

Dekolonisation und globale Dimension

Der Krieg schwächte die Kolonialreiche und setzte eine Welle der Dekolonisation frei: Indien, Indonesien, Vietnam, Algerien. Doch die Befreiung blieb begrenzt, weil sie sofort in die Blocklogik eingebunden wurde. Achille Mbembe erinnert daran, dass die Gewalt Europas nicht erst 1939 begann. Die Kolonisierung Afrikas war die Vorgeschichte des Weltkriegs. Die Vernichtungslager standen in Europa, aber die koloniale Logik – Versklavung, Rassismus, Ausbeutung – war global längst erprobt.

Nachkriegsordnung und US-Hegemonie

Mit 1945 begann eine neue Epoche, die Mandel als „Spätkapitalismus“ bezeichnete: Fordismus, keynesianische Steuerung, institutionalisierte Rüstung. Leo Panitch und Sam Gindin haben gezeigt, wie die USA diese Ordnung schufen – nicht nur durch Militär, sondern durch Dollar, IWF, Weltbank und NATO. Die Nachkriegswelt war eine amerikanische, und sie wirkt bis heute.

Hoffnung gegen Katastrophe

Mandel blieb trotz Auschwitz und Hiroshima revolutionärer Humanist. Er hielt am Vertrauen in die Befreiung fest. Michael Löwy erinnerte daran, dass dieser Humanismus kein naiver Optimismus war, sondern die Antwort auf Katastrophe: Hoffnung gegen Verzweiflung, Praxis gegen Resignation.

2025: Die Nachwirkungen

Heute, achtzig Jahre nach 1945, sind die Nachwirkungen sichtbar. Russland instrumentalisiert den „Großen Vaterländischen Krieg“, um neue Aggressionen zu legitimieren. Die USA kämpfen um ihre schwindende Hegemonie, China tritt als Gegenspieler auf. Kriege um Ressourcen und geopolitische Einflusszonen kehren zurück. Der globale Süden bleibt Schauplatz von Abhängigkeit und, aber auch von Widerstand gegen imperialistische Dominanz.

Traversos „Zivilbürgerkrieg“, Benjamins „Engel der Geschichte“, Neumanns „Behemoth“, Mbembes Kolonialkritik, Malms fossile Analyse und Panitch/Gindins Theorie der US-Hegemonie – sie alle ergänzen Mandel und zeigen: Der Zweite Weltkrieg ist nicht Vergangenheit, sondern Struktur der Gegenwart.

Schluss

Der deutsche Imperialismus griff an, weil er ökonomisch in der Sackgasse steckte. Der Faschismus war das Instrument, der Krieg die Konsequenz, der Holocaust integraler Bestandteil. Der Sieg brachte keine Befreiung, sondern eine neue Weltordnung, die bis heute wirkt. Achtzig Jahre später zeigt sich: Kapitalismus produziert nicht nur Reichtum, sondern auch Barbarei. Wer 2025 verstehen will, warum wir in einer Welt von Kriegen, Krisen und Katastrophen leben, muss den Zweiten Weltkrieg begreifen – nicht als Ausnahme, sondern als Regel kapitalistischer Entwicklung.

(c) Kritik & Praxis – Verstehen. Hinterfragen. Verändern.

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