„Che lebt nicht. Aber er spricht.“
Was uns Guevara heute noch zu sagen hätte – zum 97. Geburtstag eines unbequemen Revolutionärs
Der Bart war wild, das Bild ikonisch, das Ende blutig. Am 14. Juni 1928 geboren, starb Ernesto „Che“ Guevara am 9. Oktober 1967 – erschossen, isoliert, gescheitert. Und doch scheint er 97 Jahre nach seiner Geburt präsenter denn je. Nicht als Mensch, sondern als Symbol. Sein Konterfei ziert T-Shirts, Wände, Memes. In Havanna ebenso wie in Berlin, Beirut oder Buenos Aires. Doch was sagt es aus, wenn ein Revolutionär zur Popikone wird? Und was würde Che Guevara uns heute sagen, in einer Welt aus TikTok, Totalüberwachung und planetarischem Kollaps?
1. Die Utopie als Pflicht: Gegen die Alternativlosigkeit
Che lebte in einer Zeit, als die Idee der Revolution noch nicht ins Museum verbannt war. Er kämpfte in Kuba, träumte vom Kongo, starb in Bolivien. Immer getrieben von der Überzeugung, dass Geschichte nicht nur gemacht, sondern verändert werden kann. Diese Überzeugung ist heute verdächtig geworden. Die Alternativlosigkeit herrscht wie ein Naturgesetz: Kapitalismus oder Barbarei – und die Barbarei haben wir längst, in Gaza, im Mittelmeer, in den Amazon-Lagern.
Was würde Che sagen? Wahrscheinlich dies: „Wenn du denkst, du kannst nichts ändern – dann bist du schon besiegt.“ Der offene Marxismus nimmt diesen Impuls ernst, ohne ihn zu verklären. Die Utopie ist kein Programm, sondern ein Möglichkeitsraum. Ein Horizont, der nicht verschwindet, nur weil wir ihn nicht erreichen. Che erinnert uns daran, dass Hoffnung nicht Optimismus ist, sondern Waffe.
2. Die Ethik des Widerstands: Fühlen ist nicht genug
Guevara schrieb: „Die schönste Eigenschaft eines Revolutionärs ist es, jede Ungerechtigkeit zu fühlen – gegen jeden Menschen, an jedem Ort der Welt.“ Ein radikales Gefühl, das sich heute in empathischer Ohnmacht verliert. Wir scrollen durch Leid, wir fühlen mit, wir tun nichts. Empörung ist zur Simulation geworden. Moral zur Ersatzhandlung.
Was würde Che sagen? Vielleicht: „Fühlen heißt kämpfen.“ Sein Begriff der Solidarität war nie passiv. Es war das tätige Mitsein im Leiden des Anderen. Heute aber ist Widerstand oft identitär verkapselt, strategisch fragmentiert, gefangen zwischen Algorithmus und Selbstverwirklichung. Guevara mahnt: Ohne Opfer kein Aufbruch. Ohne Konsequenz kein Gefühl.
3. Die strategische Frage: Warum Guevara scheiterte
Che war kein Theoretiker der Revolution. Er war ihr Ethiker. Und darin liegt seine Größe – und seine Grenze. Der voluntaristische Glaube, eine kleine bewaffnete Avantgarde könne die Revolution entzünden, scheiterte blutig. In Bolivien traf kein Aufstand ein, sondern das Militär. Die Bauern unterstützten ihn nicht, sondern verrieten ihn. Der Mensch ist kein reines revolutionäres Subjekt. Er ist widersprüchlich, verführbar, ängstlich. Auch das ist Materialismus.
Heute, im Zeitalter digitaler Kontrolle, ökonomischer Komplexität und globaler Differenz, ist Guevaras „foco“-Strategie antiquiert. Doch die Frage, wie man kämpft – lokal, organisiert, transnational – ist aktueller denn je. Che war kein Dogmatiker, aber auch kein Stratege. Die Linke der Gegenwart darf sein Pathos nicht ohne Plan übernehmen.
4. Che als Spiegel: Für wen lohnt sich der Kampf?
Wer ist heute das revolutionäre Subjekt? Die Lohnabhängigen? Die Migrant:innen? Die urbanen Prekären? Die jungen Klimaaktivist:innen? Oder niemand? Che war bereit, für die Armen in anderen Ländern zu sterben – aus Überzeugung, nicht aus Mitleid. Heute herrscht die Angst, sich selbst zu verlieren. Doch vielleicht ist genau das nötig:
"Die Revolution ist kein Selbstverwirklichungsprojekt, sondern ein Kampf gegen das Selbst im Dienste der Anderen.“
In einer narzisstisch verwalteten Gesellschaft, in der alle permanent an sich selbst basteln, wäre das die radikalste Zumutung: wieder Teil von etwas zu sein, das größer ist als man selbst – und gefährlicher.
5. Schluss: Ein Gespenst, das fordert
Che Guevara ist tot. Und das ist gut so. Denn Tote lassen sich befragen. Nicht anbeten. Sein Bild provoziert, sein Weg polarisiert. Und das sollte er auch. Wir brauchen keine neuen Märtyrer. Wir brauchen keine Nostalgie. Wir brauchen ein neues Denken, das Gefühl mit Analyse verbindet, Ethik mit Strategie, Hoffnung mit Organisation.
Am 97. Geburtstag dieses widersprüchlichen Revolutionärs bleibt eine Lektion:
Widerstand beginnt im Herzen. Aber er endet nicht dort.
(c) Kritik & Praxis – Verstehen. Hinterfragen. Verändern.
Du magst diesen Essay? Dann abonniere Kritik & Praxis.


Comments ()