Denken in Bewegung - Hegel und der Marxismus

Hegel dachte in Widersprüchen und Prozessen. Marx stellte diese Dialektik auf materielle Verhältnisse: Arbeit, Eigentum, Klassen. Der Text zeigt, wie Marxismus Hegels Methode nutzt und seine blinden Flecken bei Staat, Patriarchat und Kolonialismus kritisiert.

Denken in Bewegung - Hegel und der Marxismus

Georg Wilhelm Friedrich Hegel war der große Philosoph des Prozesses. Für ihn war nichts fertig, nichts abgeschlossen. Alles bewegt sich – weil alles in sich selbst widersprüchlich ist. Aus jedem Bruch entsteht Neues. Hegel nannte das „Aufhebung“: Negation, Überwindung und Bewahrung zugleich. Berühmt ist sein Satz: „Das Wahre ist das Ganze.“ Wahrheit liegt nicht in einem Teil, sondern im Zusammenhang, in der Geschichte.

Doch Hegel wollte am Ende Ruhe. In seiner Rechtsphilosophie mündet die Bewegung des Geistes im preußischen Staat. Widersprüche erscheinen aufgehoben, die Geschichte versöhnt sich mit der Vernunft. Hier zeigt sich die Doppelgestalt Hegels: Denker der Revolution – und zugleich Verteidiger der bestehenden Ordnung.

Vom Kopf auf die Füße

Karl Marx wuchs in dieser Atmosphäre auf. Er nannte sich selbst „Schüler dieses mächtigen Denkers“. Von Hegel übernahm er das Entscheidende: die Dialektik, die Einsicht, dass Widersprüche Geschichte treiben. Aber Marx stellte Hegel „vom Kopf auf die Füße“. Nicht der Geist bewegt die Welt, sondern die materiellen Verhältnisse: Arbeit, Eigentum, Klassen. Auch Marx denkt in Totalitäten – aber nicht als Selbstverwirklichung des Geistes, sondern als Kampf gesellschaftlicher Kräfte. Dialektik heißt bei ihm: Klassenkampf.

Die Erben

Lenin nannte den Widerspruch die Wurzel alles Lebendigen. Lukács machte Hegels Totalität zur Waffe des Proletariats. Adorno drehte die Dialektik ins Negative: Widersprüche sollen nicht verschwinden, sondern bleiben. Althusser markierte einen „Bruch“ mit Hegel, um Marx als Wissenschaftler hervorzuheben. Offene Marxisten wie Holloway oder Bonefeld nehmen den Impuls Hegels auf – Bewegung ohne Ende, ohne System.

Kritik von außen

Kaum ein Denker wurde so attackiert wie Hegel. Kierkegaard warf ihm vor, das Individuum im System zu erdrücken. Nietzsche sah in ihm einen lebensfeindlichen Logiker, der das wilde Leben tötet. Schelling und Heidegger lehnten ihn ab, weil er Natur und Sein zum Durchgang für den Geist machte. Analytiker wie Russell erklärten ihn für unverständlich, Poststrukturalisten wie Derrida sahen in ihm den Zwang zur Totalität.

Besonders schwer wiegen feministische und dekoloniale Kritiken. Hegel schrieb Frauen auf die Familie fest und rechtfertigte ihre Unterordnung. Und er erklärte Afrika kurzerhand für „geschichtslos“. Hier zeigt sich nicht nur die Grenze seiner Zeit, sondern die ideologische Funktion seiner Philosophie: Stütze von Patriarchat und Kolonialismus.

Antworten des Marxismus

Ein kritisch-offener Marxismus nimmt diese Einwände ernst. Gegen Kierkegaard: Das Individuum verschwindet nicht, es ist gesellschaftlich bestimmt. Gegen Nietzsche: Hegels Verdienst bleibt, Widerspruch ins Denken gebracht zu haben – Marxismus macht daraus sozialen Konflikt, nicht abstrakte Metaphysik. Gegen die Analytiker: Hegel schrieb keine Logik-Lehrbücher, er wollte Geschichte begreifen. Gegen die Poststrukturalisten: Fragment und Differenz sind wichtig, doch sie stehen immer in größeren Zusammenhängen.

Besonders bei Feminismus und Dekolonialismus muss der Marxismus weitergehen. Hausarbeit, Reproduktion, patriarchale Macht sind Teil der Totalität. Koloniale Unterdrückung ebenso. Hegels Blindheit darf nicht entschuldigt, sondern kritisch aufgedeckt werden.

Fazit: Lehrer und Gegner

Hegel bleibt für Marxist:innen ein Lehrer. Ohne ihn kein Denken des Widerspruchs, keine Dialektik, keine Totalität. Aber er bleibt auch ein Gegner: weil er am Ende die Widersprüche glättete und den Staat vergöttlichte. Ein kritisch-offener Marxismus übernimmt Hegels Methode – das Denken von Prozess, Negation und Geschichte – und richtet sie gegen das, was Hegel noch verteidigte: Staat, Patriarchat, Kolonialismus.

So wird Dialektik nicht System, sondern Werkzeug der Befreiung.

(c) Kritik & Praxis – Verstehen. Hinterfragen. Verändern.

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