Denken verboten? Warum Urteile so bequem sind – und wie wir uns wehren können
Ein Essay über die Faulheit der Vernunft, den psychischen Nutzen des Urteilens – und die Notwendigkeit radikaler Kritik.
Wann hast du das letzte Mal wirklich gedacht? Nicht einfach eine Meinung gehabt. Nicht zugestimmt, nicht empört, nicht geteilt oder geliked. Sondern gedacht – mit dem Risiko, falsch zu liegen. Mit dem Mut, sich selbst infrage zu stellen.
Carl Jung, der alte Individualpsychologe, hat mit seinem Satz eine Wahrheit über unsere Gegenwart formuliert, die in ihrer Brisanz kaum zu überschätzen ist: Die meisten Menschen urteilen – weil Denken zu anstrengend ist. Und dieser Satz trifft mitten in eine Gesellschaft, die das Urteil zur Tugend und das Denken zur Zumutung erklärt hat.
Die Ökonomie des Urteilens
Urteile sind schnell, bequem, emotional aufgeladen. Sie ordnen, sie beruhigen. Wer urteilt, muss nicht denken. Und genau deshalb funktionieren sie so gut in einer Welt, in der alles funktionieren muss: Menschen, Maschinen, Meinungen.
Der Kapitalismus belohnt Effizienz – auch im Geist. Denken hingegen ist langsam, widersprüchlich, gefährlich. Es kostet Zeit, Energie, Kontext. Es unterbricht den Fluss der Verwertung. Deshalb ist Denken im neoliberalen Alltag nicht vorgesehen – außer als Simulation in Podcasts, Panels und Feuilletons.
Was zählt, ist Haltung. Nicht Erkenntnis.
Klassenfrage Denken
Aber es ist mehr als Faulheit. Es ist eine Frage der sozialen Verhältnisse. Wer hat überhaupt die Möglichkeit, zu denken? Wer kann sich leisten, innezuhalten, zu zweifeln, zu hinterfragen?
Prekäre Lebensrealitäten, entfremdete Arbeit, Dauererschöpfung – sie erzeugen kein Denken. Sie erzwingen Anpassung. Urteile sind Überlebensstrategien in einer Welt, die keine Kontemplation duldet. Die Denkfaulheit ist nicht psychologisch – sie ist systemisch.
Und sie ist nützlich. Für jene, die nicht wollen, dass gedacht wird.
Urteilen als Herrschaftstechnik
Denn das Urteil ist kein bloßer Reflex. Es ist ein Instrument der Disziplinierung. Es funktioniert nach dem Muster: richtig/falsch, drinnen/draußen, gut/böse.
So entsteht eine kulturelle Logik des Ausschlusses, die gerade in autoritären Zeiten Konjunktur hat. Nicht durch Zensur, sondern durch Empörung. Nicht durch Denkverbote, sondern durch Denkvermeidung.
Wer differenziert, verliert. Wer zögert, gilt als verdächtig. Wer widerspricht, wird abgestraft – algorithmisch, sozial, moralisch.
Auch die Linke urteilt
Und ja, auch in linken Diskursen hat das Urteil Konjunktur. Wer nicht sofort „richtig“ spricht, wird aussortiert. Wer Fragen stellt, wird verdächtigt. Auch hier ersetzt Pose oft Position. Und Kritik wird zur Selbstvergewisserung – nicht zur Erkenntnis.
Was verloren geht: der Widerspruch. Die Offenheit. Der Raum des Denkens.
Plattformen der Urteilskraft
Soziale Medien sind die Maschinenräume dieser Kultur. Plattformen wie TikTok, Instagram oder X verwandeln Meinung in Mikrotransaktionen. Algorithmen verstärken Polarisierung, kuratieren Konflikt, fördern Schnelligkeit – und verhindern Tiefe.
Likes belohnen Reiz – nicht Reflexion.
Wer denkt, verliert Reichweite. Wer vereinfacht, gewinnt Zustimmung. So wird das Urteil zur digitalen Währung – und das Denken zum Luxusgut.
Denken als Widerstand
Und doch: Denken ist möglich. Aber es beginnt nicht mit Fakten, sondern mit Zweifel. Es braucht keine Expertise, sondern Mut. Und es beginnt nicht allein – sondern im Kollektiv.
Denken ist Widerstand. Gegen die Verhältnisse. Gegen sich selbst. Gegen das Urteil. Und es ist Bedingung jeder Praxis, die mehr will als ein Moralfazit.
Wir brauchen Räume, in denen gemeinsam gedacht wird: Schulen des Zweifels, Orte der Theorie, Foren des Streits. Nicht um recht zu haben – sondern um die Wirklichkeit zu begreifen. Und zu verändern.
Ein letzter Gedanke
Vielleicht hat Jung recht. Denken ist schwer. Aber urteilen ist gefährlich.
Denn wer aufhört zu denken, hört auf, Mensch zu sein.
(c) Kritik & Praxis – Verstehen. Hinterfragen. Verändern
Du magst meine Artikel, Essays und Thesenpapiere – jetzt kannst du mehr davon direkt ins Postfach bekommen!
Kritik & Praxis - Verstehen. Hinterfragen. Verändern
Comments ()