Der 17. Juni 1953 als gescheiterte Revolution von unten – eine Erinnerung an den fast vergessenen Aufstand der Arbeiter:innen

"Der 17. Juni war mehr als ein Aufstand – er war der Versuch einer demokratischen und sozialen Revolution. […] Eine Revolution, die keinen Namen bekam, weil sie scheiterte.“ (Kowalczuk, 17. Juni 1953, München 2013, S. 9f.)
Sie streikten für Würde – und bekamen Panzer
Der 17. Juni 1953 als gescheiterte Revolution von unten – eine Erinnerung an den fast vergessenen Aufstand der Arbeiter:innen
Von Sascha Schlenzig
Der Tag, an dem sich der Sozialismus selbst entlarvte
Am 17. Juni 1953 erhoben sich in über 700 Städten und Gemeinden der DDR Arbeiter:innen gegen den Staat, der behauptete, in ihrem Namen zu sprechen. Was als Streik gegen Arbeitsnormen begann, wurde binnen Stunden zu einem massenhaften, weitgehend spontanen Aufstand gegen die politische, ökonomische und kulturelle Entmündigung im bürokratisch deformierten Staatssozialismus.
Die Wucht der Revolte traf die SED-Führung ebenso unvorbereitet wie den Westen. Der Mythos vom „Arbeiter- und Bauernstaat“ wurde in wenigen Stunden von denen selbst zerschlagen, die das Rückgrat dieser Gesellschaft hätten sein sollen: den Lohnabhängigen, die nun Freiheit, Demokratie und soziale Kontrolle über ihre Lebensbedingungen forderten.
Ursachen: Repression, Entfremdung, autoritärer Sozialismus
Die unmittelbaren Auslöser waren ökonomisch: Eine 10-prozentige Erhöhung der Arbeitsnormen bedeutete faktisch eine Lohnsenkung. Doch darunter lag ein tieferer Grund: ein autoritärer Umbau der Gesellschaft seit der SED-Parteikonferenz 1952, gekennzeichnet durch Kollektivierung, Repression, Kirchenkampf, Militarisierung und Versorgungskrise.
Die DDR war – trotz aller Rhetorik – ein von oben gelenkter, diktatorischer Staat mit einer neuen herrschenden Kaste: der Parteibürokratie. Die Arbeiter:innen, nominal die Subjekte der Herrschaft, waren in Wirklichkeit Objekte der Planung, ihres eigenen Ausschlusses, der stalinistischen „Vormundschaft“ im Namen der Geschichte.
Was dem Aufstand vorausging: Stalinismus als deformierter Sozialismus
Doch dieser „Realsozialismus“ war kein Zufallsprodukt und kein bloßer Verrat am Sozialismus. Seine Wurzeln reichen zurück in die Isolation der russischen Revolution von 1917. Nachdem die Revolten in Deutschland (1918–23), Ungarn, Italien und Finnland gescheitert waren, blieb die junge Sowjetunion allein. Umgeben von Feinden, vom Bürgerkrieg zerrissen und ökonomisch verwüstet, entstand ein System der Selbsterhaltung durch Kontrolle und brutaler Diktatur - der Stalinismus.
Der Stalinismus war also nicht „von Anfang an“ der Sozialismus. Er war die historische Deformation eines revolutionären Versuchs, der ohne internationale Ausdehnung gezwungen war, in einem rückständigen Land auf eigene Faust zu überleben – mit dem Preis einer neuen herrschenden Kaste der Planungsbürokratie. Die DDR war keine eigenständige sozialistische Gründung – sondern eine Satellitenformation, nach dem Vorbild der sowjetischen Staatspartei, aufgepfropft auf ein besetztes Land nach dem zweiten Weltkrieg.
Der Verlauf: spontane Selbstermächtigung, revolutionäre Hoffnung
Innerhalb weniger Stunden entwickelte sich aus einzelnen Betriebsstreiks ein landesweiter Flächenbrand. In Berlin, Halle, Magdeburg, Görlitz, Bitterfeld, Dresden, Leipzig, Jena – überall formierten sich Demonstrationen, Streikkomitees, politische Forderungen: Freie Wahlen, Rücktritt der Regierung, Freilassung der Gefangenen, Ende der Besatzung.
Es war keine durchorganisierte Bewegung, keine Partei führte sie an. Genau darin lag ihre revolutionäre Qualität – und ihre strukturelle Schwäche. Denn eine Revolte ohne Organisationsmacht bleibt verwundbar. Als sowjetische Panzer am Mittag des 17. Juni einrückten, waren die Machthaber nicht legitimiert, aber wieder fähig zur Repression.
Die Partei regierte im Namen des Proletariats. Als das Proletariat widersprach, kamen die Panzer.
Die politischen Forderungen: Demokratie und deutsche Einheit
Die Protestierenden forderten nicht nur bessere Arbeitsbedingungen – sie forderten Demokratie. „Freie Wahlen!“, „Rücktritt der Regierung!“, „Einheit Deutschlands!“ – diese Rufe hallten über Marktplätze und Betriebshöfe. Sie waren nicht nostalgisch oder nationalistisch – sondern ein Ausdruck der politischen Selbstermächtigung der Arbeiter:innen.
In einer Gesellschaft, die sich sozialistisch nannte, aber keine demokratische Mitsprache kannte, wurde der Ruf nach Einheit zu einer klassenpolitischen Forderung. Nicht, weil man sich dem Westen anschließen wollte, sondern weil man sich nicht länger trennen lassen wollte von den eigenen Lebensinteressen. Die Menschen wollten Teilhabe, nicht Zonen. Entscheidungen, nicht Instruktionen.
Die Revolte des 17. Juni zeigt: Demokratie und Freiheit sind keine bürgerliche Nebensache, sondern zentraler Bestandteil jeder emanzipatorischen Klassenbewegung.
Der 17. Juni war kein deutscher Sonderfall. Er war Teil einer vergessenen Geschichte europäischer Klassenkämpfe gegen den diktatorischen Stalinismus: Budapest 1956, Prag 1968, Danzig 1980. Überall der gleiche Ruf: Freiheit, Würde, Demokratie – von unten.
Die Lehre der Macht: Ausbau der Stasi als Reaktion auf die Angst vor der Bevölkerung
Der 17. Juni 1953 war nicht nur ein politischer Einschnitt – er war ein Wendepunkt in der Sicherheitsarchitektur der DDR. Zwar war das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) bereits 1950 gegründet worden, doch erst nach dem Aufstand wurde es zur zentralen Repressionsmacht ausgebaut. Die Stasi hatte den Aufstand nicht vorhergesehen und wurde von seiner Wucht überrascht. In der Folge erhielt sie mehr Personal, weitreichendere Befugnisse und direkte politische Kontrolle. Die SED-Diktatur konnte nur durch Überwachung und Unterdrückung der Arbeiter:innenklasse ihre Macht sichern. Die Botschaft war klar: Nicht Reform, sondern Kontrolle. Nicht Kritik, sondern Denunziation.
Die Folgen: Repression, Schweigen, Verdrehung
Etwa 50 Tote, 15.000 Festnahmen, hunderte langjährige Haftstrafen. Der Ausnahmezustand wurde über 167 Kreise verhängt, in vielen Städten bis in den Juli hinein. Die SED reagierte nicht mit Reformen, sondern mit Einschüchterung, Kontrollausbau und einer jahrzehntelangen Verleumdung der Erinnerung: Der Aufstand wurde als „faschistisch“, „vom Westen gesteuert“ diffamiert.
Im Westen hingegen wurde er bald funktionalisiert: zum „antikommunistischen Feiertag“, als „Tag der deutschen Einheit“ – bis auch dort die Erinnerung verblasste.
„Es war eine revolutionäre Situation, in der sich die DDR 1953 befand. […] Es war ein revolutionärer Moment, aber keine Revolution. Eine Revolution hätte mindestens die revolutionäre Situation nutzen und die Machtfrage stellen müssen. Genau das geschah nicht. […] Dennoch wird man davon sprechen müssen, dass der 17. Juni 1953 eine gescheiterte Revolution war.“
(Ilko-Sascha Kowalczuk, JHK 2013, S. 117)
Warum wir uns heute erinnern müssen
Aus linker Sicht ist der 17. Juni nicht nur ein historisches Ereignis, sondern eine Mahnung. Er zeigt, dass Sozialismus nicht durch Verwaltungsapparate verwirklicht werden kann – sondern durch Demokratie in der Produktion, durch kontrollierende Öffentlichkeit, durch aktive Teilhabe von unten.
Er mahnt uns, dass autoritäre Versuchungen in jeder politischen Ordnung lauern – auch in solchen, die sich sozialistisch nennen. Und er erinnert uns daran, dass eine andere Welt nicht ohne die Arbeiter:innen und ihre Erfahrungen gedacht werden kann.
„Es war ein großer politischer Fehler, den Feiertag 17. Juni 1990 abzuschaffen. [...] Unsere Demokratie ist auch bedroht, weil Staat und Gesellschaft mit '1953' und '1989' nie einen angemessenen Umgang gefunden haben. [...] Wir brauchen lebendige Erinnerungsorte für Demokratie und Freiheit – und zwar nicht nur an einem Tag, sondern 365 Tage im Jahr.“
(Ilko-Sascha Kowalczuk , Facebook, 16. Juni 2025)
Diese Worte sind nicht bloß Gedenkrhetorik, sondern ein Aufruf. Eine Linke, die den 17. Juni vergisst, vergisst sich selbst. Eine Linke aber, die ihn wiederentdeckt, könnte daraus lernen: Für einen Sozialismus, der nicht über Menschen herrscht, sondern mit ihnen gemeinsam entsteht.
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