Frankreich unregierbar – Zerfall der Fünften Republik und die Krise Europas
von Sascha Schlenzig und Marc Dormoy
Am 8. September 2025 hat die Nationalversammlung François Bayrou gestürzt. 364 Abgeordnete verweigerten dem Premierminister das Vertrauen, nur 194 stützten ihn. Zum ersten Mal in der Geschichte der Fünften Republik fällt eine Regierung durch ihre eigene Vertrauensfrage nach Artikel 49.1. Bayrou hat seine Demission bereits eingereicht. Präsident Emmanuel Macron will „in den nächsten Tagen“ einen Nachfolger ernennen. Doch die Krise geht tiefer als jede Personalie.
Frankreich ist faktisch unregierbar geworden. Kein Premier, keine Partei, kein Block verfügt über eine Mehrheit. Drei Regierungen sind in weniger als zwölf Monaten gescheitert. Der Haushalt 2026 ist blockiert, die Schulden explodieren, die Institutionen stecken fest. Unregierbarkeit bedeutet heute zweierlei: ein Parlament, das keine Mehrheiten mehr hervorbringt, und eine Straße, die sich nicht mehr befrieden lässt. Was wir erleben, ist nicht nur ein Regierungswechsel – es ist der Zerfall der Fünften Republik. Das politische System, das seit 1958 Stabilität garantieren sollte, offenbart seine innere Leere.
Ein Präsident ohne Macht
Emmanuel Macron wollte Frankreich modernisieren, nun steht er selbst am Rand des Abgrunds. Er ist ein Präsident ohne Autorität: verhasst auf der Straße, blockiert im Parlament, verlassen von großen Teilen seines eigenen Lagers. Die Institutionen, die als „Präsidialmonarchie“ galten, sind zu einem Käfig geworden. De Gaulle baute die Fünfte Republik, um Mehrheiten herzustellen – heute zerbricht sie an ihrer eigenen Architektur.
Macrons letzte Option war der Zentrist Bayrou – auch er verbrannt. Die Konservativen sind zerfallen, die Sozialdemokraten marginalisiert. Übrig bleiben zwei Pole:
- Marine Le Pen, die den autoritären Ausweg verspricht – nationale Einheit, Ordnung, Fremdenhass.
- Jean-Luc Mélenchon, der die Wut von unten kanalisiert – gegen Austerität, für soziale Rechte, mit ambivalentem Verhältnis zu Europa und Russland.
Zwischen diesen Polen ist die Mitte implodiert. Frankreich erlebt eine Hegemoniekrise im Gramscianischen Sinn: die alte Ordnung zerfällt, eine neue ist noch nicht geboren. Keine Elite kann mehr das Einverständnis organisieren, kein Block mehr das Land führen.
Ursachen der Verschuldung
Die französische Krise ist nicht nur eine Frage falscher Politik im Jahr 2025, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger Fehlentwicklungen. Frankreich lebt seit den 1980er Jahren in einem permanenten Defizitmodus. Gigantische Rentenlasten – über 70 Milliarden Euro jährlich, getrieben durch eine alternde Gesellschaft – zehren am Budget.
Hinzu kommen politische Entscheidungen der letzten Jahre: Steuererleichterungen für Reiche und Konzerne, die allein unter Macron Einnahmenverluste von über 60 Milliarden Euro pro Jahr verursachen. Gleichzeitig explodierten die Staatsausgaben durch Pandemie- und Energiehilfen, während Subventionen von über 200 Milliarden Euro jährlich an Unternehmen fließen, ohne dass sich Produktivität oder Wachstum entsprechend verbessern.
So wurde die Verschuldung zu einem politischen Projekt: Gewinne privatisieren, Kosten vergesellschaften. Solange die Zinsen niedrig waren, konnte das System weiterlaufen. Doch mit der Zinswende wächst der Schuldendienst selbst zum größten Ausgabenposten – ein Teufelskreis, der den französischen Kapitalismus stranguliert.

Zahlen einer ökonomischen Sackgasse
Die ökonomischen Daten lesen sich wie ein Totenschein des französischen Kapitalismus:
- 116 % Staatsverschuldung, über 3.400 Milliarden Euro.
- 5,4 % Defizit, die Maastricht-Kriterien nur noch ein Phantom.
- 44,5 Milliarden Euro Zinslast jährlich – mehr als der gesamte Bildungs- oder Gesundheits-Etat.
- Französische Anleihen riskanter als italienische: eine historische Premiere.
- Wachstumsaussicht 2026: 0,9 %.
- Reallöhne stagnieren, Haushalte verschuldet bis an die Grenze.
Während Milliarden an die Finanzmärkte fließen, verordnen die Eliten neue Kürzungen: Feiertage streichen, Renten einfrieren, öffentliche Dienste abbauen. Es ist blanker Klassenkampf von oben – und er erzeugt Hass. Hass auf eine Elite, die Gewinne privatisiert und Lasten sozialisiert.
Vermögenskonzentration und Ungleichheit
Frankreich ist zugleich ein Land massiver Vermögenskonzentration. Mehr als 70 Milliardäre verfügen zusammen über ein Vermögen von hunderten Milliarden Euro – allein Bernard Arnault kontrolliert mit seiner Familie über 200 Milliarden US-Dollar. Demgegenüber besitzt das ärmste Fünftel der Bevölkerung praktisch kein Nettovermögen. Die reichsten 10 % halten mehr als die Hälfte des Gesamtvermögens, das oberste Prozent über 20 %.
Die Armutsquote erreichte 2023 mit 15,4 % den höchsten Stand seit Beginn der Messungen. Fast 10 Millionen Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze. Der Gini-Koeffizient für Einkommen liegt bei rund 30 %, das Verhältnis zwischen den obersten 20 % und den untersten 20 % beträgt inzwischen das 4,5-Fache.
Frankreich zählt zu den reichsten Ländern der Welt – und doch lebt jeder Fünfte in prekären Verhältnissen. Luxus auf der einen Seite, Suppenküchen auf der anderen: Das ist die soziale Grammatik der Krise.
Kaufkraftverluste für die Masse
Die nominalen Einkommen sind in den letzten zehn Jahren gestiegen – von durchschnittlich 2.647 € brutto im Jahr 2010 auf rund 3.300 € heute. Doch die Kaufkraft hinkt hinterher. Zwischen 2019 und 2024 gab es zwar laut Oxford Economics einen Zuwachs von 6,6 % bei der inflationsbereinigten Kaufkraft – doch dieses Plus ist ungleich verteilt.
Beschäftigte mit niedrigen Einkommen sowie Menschen in ländlichen Regionen haben real Kaufkraft verloren, weil steigende Energie- und Mobilitätskosten sie besonders hart treffen. Viele Haushalte geben fast die Hälfte ihres Einkommens für Mieten aus.
Die Reallöhne liegen in Frankreich trotz leichter Erholung immer noch unter dem Niveau von Anfang 2021. Arbeitsleistung steigt, Lebensstandard sinkt – die Essenz einer Krise.
Alltag im sozialen Ausnahmezustand
Die Krise hat längst die Küchen, Wohnungen und Körper erreicht:
- Familien geben über 40 % ihres Einkommens für Miete aus.
- Junge Menschen campieren in Zelten, Rentnerinnen entscheiden zwischen Essen oder Heizen.
- Millionen verzichten: Fleisch verschwindet vom Teller, Heizungen bleiben kalt.
Plattformarbeit ersetzt Sicherheit durch ständige Unsicherheit.
20 % leben unter der Armutsgrenze, die Zahl derer, die Lebensmittelhilfen brauchen, hat sich seit 2019 verdoppelt.
Das ist keine abstrakte Statistik, das ist gelebter Ausnahmezustand. Frankreichs Gesellschaft lebt im Zustand permanenter Verunsicherung.
Eine vorrevolutionäre Stimmung
Frankreich kennt diese Momente: 1936, 1968, 1995, 2018. Immer dann, wenn die Eliten kürzen und die Menschen verzweifeln, antwortet die Straße. Am 10. September wollen Gewerkschaften, Basisgruppen und Netzwerke wie „Bloquons Tout“ das Land blockieren: Straßen, Raffinerien, Bahnhöfe. Über 150 Städte, 600 Aktionen. 63 % der Bevölkerung unterstützen die Proteste, 70 % fordern Macrons Rücktritt.
Das ist mehr als eine Protestwelle. Es ist eine vorrevolutionäre Dynamik:
Hass auf die Eliten.
- Polarisierung zwischen autoritärer Rechter und rebellischer Linker.
- ein kollabierendes Zentrum.
- eine Gesellschaft, die gelernt hat, dass man Rechte nicht erbettelt, sondern erkämpft.
Lenin sprach von einer revolutionären Situation, wenn die Herrschenden nicht mehr können und die Beherrschten nicht mehr wollen. Genau das erleben wir heute. Gramsci hätte gesagt: eine Krise der Hegemonie – die alte Ordnung zerfällt, eine neue ist noch nicht geboren.
Erdbeben für Europa
Diese Krise sprengt die Grenzen Frankreichs. Wenn die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurozone ins Wanken gerät, wackelt die gesamte Architektur der Europäischen Union. Brüssel kann nicht regieren, was Paris nicht liefert. Die Schuldenregeln, der Stabilitätspakt, das Vertrauen in den Euro – alles steht auf dem Spiel.
Die Krise der Fünften Republik ist damit zugleich eine Krise des europäischen Kapitalismus. Ein politisches Erdbeben, das nicht in Paris endet, sondern in Brüssel, Frankfurt und Berlin spürbar wird. Wenn Frankreich wankt, bricht das Herzstück des europäischen Projekts.
Wer lenkt den Zug?
Frankreich steht am Bahnsteig der Geschichte. Der Zug der Krise rollt in den Bahnhof. Die Frage ist nicht mehr, ob das System scheitert – es ist implodiert. Die Fünfte Republik liegt im Schotterbett der Geschichte.
Jetzt entscheidet sich, wer den Trümmerhaufen besetzt:
- die autoritäre Rechte, die Opfer verlangt und nationale Einheit predigt, oder
- eine soziale Mehrheit, die Würde, Solidarität und soziale Rechte erkämpft.
Frankreich taumelt – und mit ihm Europa. Der französische Kapitalismus wankt. Die EU-Architektur steht vor ihrem härtesten Stresstest. Was kommt, ist offen. Aber eines ist sicher: Es wird kein „Weiter so“ geben.
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