Frieden ohne Freiheit? Die SPD, Russland – und die Rückkehr der alten Fehler
Man kennt diese Stimmen: Mützenich, Walter-Borjans, Stegner, Eichel. Sozialdemokraten einer älteren Schule. Männer des Ausgleichs, der Gespräche, der behutsamen Distanz zur Macht. Ihr neues „Manifest“ fordert nichts weniger als eine außenpolitische Kehrtwende. Deutschland solle abrüsten, Distanz zur NATO gewinnen, nicht „alarmistisch“ sein. Man müsse wieder mit Russland reden, selbst jetzt, mitten im Krieg.
Auf den ersten Blick wirkt das wie der kluge Gegenentwurf zur bellenden Militarisierung der deutschen Debatte. Doch auf den zweiten Blick ist es genau das Gegenteil: eine gefährlich entpolitisierte Nostalgie – im Gewand des Friedens.
Der neue Realismus ist der alte Irrtum
Was die SPD-Veteranen vorschlagen, ist kein diplomatischer Fortschritt, sondern ein Rückfall. Die Ukraine wird zur geopolitischen Figur, nicht zum Subjekt. Russland bleibt unbenannt – als Imperialmacht, als Aggressor, als Bedrohung der Selbstbestimmung. Das Manifest verurteilt zwar „den Angriffskrieg“, aber nicht die Ideologie dahinter. Nicht das Projekt der autoritären Hegemonie. Nicht die gezielte Zerstörung eines Staates, der sich emanzipieren wollte.
Es ist der alte Fehler der Äquidistanz: die Vorstellung, Frieden ließe sich durch Gleichgewicht zwischen Großmächten herstellen – selbst dann, wenn eine Seite gerade Bomben auf Krankenhäuser wirft.
Frieden ist kein Zustand, sondern ein Verhältnis
Frieden – das klingt sanft, beruhigend, notwendig. Doch Frieden ist kein abstrakter Idealzustand, sondern ein konkretes Machtverhältnis.
Welcher Frieden wird hier gefordert?
Ein Frieden, der Putins Expansion entpolitisiert?
Ein Frieden, der die ukrainische Selbstverteidigung delegitimiert?
Ein Frieden, der auf Stabilität setzt – nicht auf Gerechtigkeit?
Dieser Frieden ist kein Fortschritt, sondern eine Kapitulation im Namen des Gleichgewichts. Er blendet das Kräfteverhältnis aus – und damit genau das, was Marxisten die „Materialität der Gewaltverhältnisse“ nennen.
Friedensrhetorik als Standortstrategie
Die Forderung nach einem Ende der NATO-Aufrüstung, nach außenpolitischer Souveränität, nach Verhandlungen mit Russland – das alles klingt pazifistisch. Doch es ist kein Antimilitarismus, sondern ein Standortreflex. Deutschland soll sicher bleiben. Deutschland soll nicht Ziel russischer Raketen sein. Deutschland soll nicht mehr zahlen.
Mit der Ukraine hat das wenig zu tun. Mit linker Außenpolitik noch weniger. Es ist ein national begrenzter Friedenswunsch, der die internationale Solidarität ausradiert – und dabei vergisst, dass echte Sicherheit nur transnational entstehen kann, aus Beziehungen von Gleichheit, nicht aus Deals mit Diktatoren.
Diese Standortlogik ist kein Zufall. Sie ist Ausdruck einer politischen Tradition, die Frieden stets als Ordnung verstand – nie als Bruch mit Herrschaft.
Die Selbsttäuschung der Sozialdemokratie
Die Unterzeichner des Manifests behaupten, die SPD müsse Teil der Friedensbewegung bleiben. Doch welche Friedensbewegung meinen sie? Die antikoloniale? Die klassenbewusste? Die antiimperialistische? Oder die, die nie gelernt hat, zwischen Aggression und Verteidigung zu unterscheiden?
Die Wahrheit ist: Die SPD hat kein Konzept für Frieden, weil sie kein Konzept für Macht hat. Sie spricht von Abrüstung, ohne über Putins Strategie zu reden. Von Verständigung, ohne Bedingungen zu benennen. Vom Dialog, ohne die Gewaltverhältnisse zu durchdringen. Es ist ein Frieden, der auf Empathie setzt, aber auf Analyse verzichtet – ein politischer Sedativum, kein klassenbewusster Antimilitarismus.

Was wäre linke Außenpolitik?
Eine emanzipatorische Außenpolitik müsste ganz anders aussehen:
- Sie würde die Selbstbestimmung der Ukraine zur Voraussetzung jeder Lösung machen.
- Sie würde den Krieg als Ausdruck autoritärer Kapitalakkumulation begreifen, nicht als tragischen Einzelfall.
- Sie würde Widerstand legitimieren, nicht relativieren.
Und sie würde erkennen: Verhandlungen sind kein Selbstzweck, sondern Resultat gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse – sie brauchen Druck von unten, nicht Bitten von oben.
Eine Linke, die schweigt, verrät sich selbst
Das SPD-Manifest ist mehr als ein Debattenbeitrag. Es ist ein Symptom.
Es zeigt, wie tief die Krise des linken Denkens in der Außenpolitik reicht.
Wie sehr die SPD ihre eigene Geschichte – von Brandt über Bahr bis Schröder – verklärt.
Und wie blind sie für das ist, was heute auf dem Spiel steht:
Nicht nur ein Krieg. Sondern die Möglichkeit, ein emanzipatorisches Projekt gegen autoritäre Globalmachtpolitik zu verteidigen.
Eine Linke, die dazu schweigt, stellt sich nicht zwischen die Blöcke – sie stellt sich neben die Täter.
Frieden ist nicht neutral.
Frieden ist nicht billig.
Frieden ist nicht Verzicht – sondern die radikalste Form von Gerechtigkeit.
Oder, um es klar zu sagen:
Die Ukraine kämpft nicht für geopolitische Interessen. Sie kämpft für eine Zukunft, in der Gespräche wieder mehr sind als eine Form von Kapitulation.
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