Generation der Unruhe – Die weltweiten Gen-Z-Proteste und die neue Logik des Aufstands

Die Gen-Z rebelliert weltweit – gegen Krieg, Kapitalismus, Polizeigewalt und erzwungene Prekarität. Eine Analyse über die neue politische Unruhe und ihre materiellen Ursachen.

Ein Essay über Jugend, Kapitalismus und den neuen Zyklus der Revolte

von Marc Dormoy / Sascha Schlenzig

In den Straßen von Kathmandu, Rabat und Antananarivo lodern in diesen Monaten dieselben Feuer. Regierungsgebäude brennen, Premierminister treten ab, und an den Frontlinien stehen nicht Veteranen, sondern junge Menschen, geboren zwischen 1997 und 2012.

Sie nennen sich Gen Z, doch das Etikett täuscht. Denn was sich hier formiert, ist keine Generation im kulturellen Sinn – sondern eine neue Formation der Arbeiterklasse unter digitalen Bedingungen.

Von Nepal über Marokko bis Indonesien hat sich in wenigen Wochen eine internationale Bewegung entzündet, deren Energie sich aus denselben Quellen speist: Prekarität, Ungleichheit, Korruption, Entwertung von Arbeit und Sinn. Sie ist Ausdruck einer globalen Krise des Spätkapitalismus, in der politische Repräsentation, soziale Sicherheit und Zukunftserwartung zugleich erodieren.

Die Sprache des Aufstands

Das Neue ist ihre Sprache. Über den Köpfen der Demonstrierenden weht kein Parteisymbol, sondern die Piratenflagge aus dem japanischen Anime One Piece – ein Totenkopf mit Strohhut.

In Nepal, Indonesien, den Philippinen und Madagaskar tauchte sie gleichzeitig auf. Der Feind ist hier wie dort derselbe: ein korruptes, bürokratisches Imperium. Ein Symbol globaler Jugendkultur wurde zur Allegorie des Widerstands.

„It’s like a common language now“, sagt Rakshya Bam, 26, eine der nepalesischen Organisatorinnen. Die Gen Z spricht diese Sprache fließend.

Die Proteste von 2025 sind nicht zufällig, sondern notwendig. Sie sind das Ergebnis einer Strukturkrise, die sich im Alltäglichen manifestiert – in überfüllten Kliniken, unsicheren Jobs, digitalen Kontrollräumen, zerstörten Ökosystemen.

Marx schrieb in den Grundrissen, jede Gesellschaftsform schaffe die Menschen, die sie braucht. Der heutige Kapitalismus hat eine Jugend geschaffen, die er nicht mehr gebrauchen kann. Sie ist gebildet, vernetzt, mobil – und „überflüssig“.

Die globale Gestalt der Ausbeutung

Die Daten sind eindeutig:

- In Marokko liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 36 %.

- In Nepal bei 20 %.

- In Madagaskar lebt die Hälfte der Bevölkerung von weniger als zwei Dollar am Tag.

- In Indonesien haben 14 % der unter 25-Jährigen keine Arbeit – und die Mehrheit arbeitet informell.

Diese Zahlen bezeichnen keine nationale Krise, sondern die globale Gestalt der Ausbeutung im Zeitalter der Plattformen. Was früher Fabrikarbeit war, ist heute algorithmisch gesteuerte Dienstleistung: Lieferdienste, Content-Produktion, Datentraining, Klickarbeit.
Die Gen Z bildet das Prekariat der Informationsökonomie – hypermodern und entrechtet zugleich.



Nepal – Die spontane Revolution

Nepal war der Wendepunkt. Ein harmloser Protest gegen ein Social-Media-Verbot eskalierte zur Revolution. 19 Tote am ersten Tag, 72 in der Woche darauf. Das Parlament brannte, der Premierminister trat zurück.

Am Tor des Parlaments hing das Jolly-Roger-Banner aus One Piece. In den Memes kursierte es als „Flagge der Generation, die sich nicht mehr regieren lässt“.

Hier verschmolz ästhetische Revolte mit materieller Verzweiflung. Was Marx und Rosa Luxemburg „spontane Aktion“ nannten, erscheint heute in der Bildsprache der Popkultur.

Der Anime-Held ersetzt das Parteiemblem; das Internet ersetzt die Flugschrift. Die Jugend übersetzt Theorie in Zeichen – nicht in Programme.

Likes, Shares, Empörung wurden für einen Moment zu produktiver Kraft – nicht als Simulation von Teilhabe, sondern als reale Organisierung.

Marokko – Der Aufstand der Plattformen

In Marokko begann die Bewegung mit vier Jugendlichen in einem Discord-Chat. Zwei Wochen später zählte der Server 250 000 Mitglieder. Sie nannten sich Gen Z 212 – nach der Landesvorwahl, als Zeichen kollektiver Identität.

Ihre Forderungen waren schlicht: Gesundheit, Bildung, Gerechtigkeit.

Die Organisation war horizontal: Abstimmungen im Chat, offene Kanäle, keine Anführer. Diese Struktur ist nicht Schwäche, sondern Spiegel der digitalen Produktionsweise selbst – flexibel, vernetzt, flüchtig.

Die Bewegung reproduziert die Logik der Plattform – aber gegen ihre Herrschaft.

„Wir sind keine Bewegung. Wir sind ein Update.“ – dieser Satz eines anonymen Aktivisten ging viral.

Madagaskar und Indonesien – Die Peripherie schlägt zurück

In Madagaskar forderten Jugendliche Strom, Wasser, Zukunft. Präsident Rajoelina löste seine Regierung auf – zu spät. 22 Menschen starben.

Doch „Gen Z Mada“ wurde zum Symbol einer Jugend, die gelernt hat, dass Politik kein Privileg ist.

Auch hier flatterte die Strohhut-Flagge.
In Jakarta wurde sie auf Wände gesprüht, in Antananarivo auf T-Shirts gedruckt.

Das Motiv des Piraten, der gegen das Imperium kämpft, verbindet postkoloniale Erfahrung mit digitaler Pop-Ikonografie – eine Ästhetik, die aus Hollywood und Tokio stammt, aber in Afrika und Asien revolutionär aufgeladen wird.

In Indonesien entzündete sich der Protest an einer 3 000-Dollar-Wohnzulage für Abgeordnete. Ein Lieferfahrer, 21, kam ums Leben, als ein Polizeifahrzeug ihn überrollte. Binnen Tagen geriet das Kabinett ins Wanken.

Die Dialektik der Digitalisierung

Die Plattformen sind zugleich Mittel und Fessel.
Der Kapitalismus der Gegenwart wird nicht mehr nur durch Fabriken, sondern durch Daten organisiert.

Die Produktionsmittel sind Software und Aufmerksamkeit.
Gen Z beherrscht sie besser als jede Generation zuvor – und beginnt, sie gegen ihre Logik zu wenden.

In diesem Widerspruch liegt das revolutionäre Potenzial. Kommunikation ist selbst Produktionsverhältnis geworden. Wer sie stört, stört die Akkumulation.

Wenn ein Server brennt, ist das keine Metapher – es ist Klassenkampf in der Cloud.

Byung-Chul Han beschreibt den neoliberalen Menschen als Wesen der Selbstoptimierung. Sein Imperativ lautet: „Du kannst alles – also bist du selbst schuld, wenn du scheiterst.“

Die Gen Z ist diese Ideologie satt. Sie ist die Generation des Burn-out, der Angst, der Dauerverfügbarkeit. Ihre Proteste sind nicht nur politisch, sondern auch psychologisch – ein kollektiver Versuch, der Erschöpfung Sinn zu geben.

„Wir sind nicht faul. Wir sind erschöpft – und das ist politisch.“
Diese Müdigkeit ist keine Schwäche, sondern Bewusstwerdung.

Wenn die eigene Erschöpfung als gesellschaftlich erkannt wird, beginnt Klassenbewusstsein im Sinne von Lukács:
Die Erkenntnis, dass das Private politisch ist – und das Subjekt ein Produkt der Verhältnisse.

Grenzen und Aufgaben

Es gibt in der Geschichte Momente, in denen die Jugend zum Indikator des Systemzustands wird. 1968 war ein solcher Moment, der Arabische Frühling ein anderer. 2025 markiert den Beginn eines neuen Zyklus.

Die Gen-Z-Bewegungen können stürzen, aber sie können noch nicht aufbauen. Sie sind mächtig in der Zerstörung, schwach in der Konstruktion.

Das ist kein Zufall, sondern Ausdruck der Epoche:

Ein Kapitalismus im Dauerkrisenmodus produziert Subjekte des Widerstands, aber keine stabile Gegenmacht.

Die politische Aufgabe besteht darin, diese Energie nicht zu moralisieren, sondern zu organisieren – ohne sie zu ersticken.

Um aus Symbolen Strukturen zu machen, braucht es Organisation, ohne die Bildsprache zu verlieren.

Vielleicht wird sie keine Revolution im klassischen Sinn vollbringen.
Aber sie verändert bereits den Begriff der Revolution selbst:
Nicht als heroischen Moment, sondern als Prozess – als Weigerung, das Unhaltbare fortzusetzen.

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👉 Die Erstfassung dieses Textes wurde am 14.Oktober für kritikundpraxis.substack.com verfasst.

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