Kritik an Götz Aly: Faschismus, Demokratie und Kapitalismus
1. Der verkürzte Befund
Götz Aly zieht im Spiegel-Interview die Lehre: „Ohne Demokratie kein Hitler.“ Damit verlagert er die Ursachen des Nationalsozialismus in die Schwäche der Weimarer Republik: Reformunfähigkeit, Zersplitterung, Vertrauensverlust. Was wie historische Nüchternheit klingt, verkehrt die Verhältnisse. Faschismus war nicht Folge von „zu viel Demokratie“, sondern Ergebnis einer tiefen kapitalistischen Krise. Demokratie war die Bühne, nicht der Ursprung.
2. Faschismus als Krisenlösung
Die Jahre 1929–33 waren eine Systemkrise: Weltwirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit, Bankenzusammenbruch, Hyperinflation. In dieser Situation entschieden sich große Teile des Kapitals für die Nazis – nicht aus Verblendung, sondern aus Kalkül. Der Faschismus versprach, Arbeiterbewegung und Gewerkschaften zu zerschlagen, soziale Proteste zu ersticken und die kapitalistische Ordnung mit autoritären Mitteln zu stabilisieren. Er war Krisenlösung im Sinne der herrschenden Klassen.
3. Faschismus als Imperialismus
Der Nationalsozialismus war von Beginn an expansiv. Sein Ziel war nicht nur innere Stabilisierung, sondern auch die Neuaufteilung der Welt. Lebensraum im Osten, Kolonialträume, Raubzug im besetzten Europa – das war die ökonomische und geopolitische Logik. Faschismus verband soziale Disziplinierung im Inneren mit imperialistischer Aggression nach außen. Aly deutet diesen Zusammenhang kaum an. Ohne ihn aber bleibt das Bild unvollständig: Faschismus war nicht nur eine nationale Katastrophe, sondern eine globale Eskalation der imperialistischen Konkurrenz.
4. Reformstau oder Eigentumsfrage
Wenn Aly heutige Parallelen zieht, spricht er von „Reformunfähigkeit“ in Rente, Pflege, Gesundheit. Doch das Problem ist nicht mangelnder politischer Mut, sondern die Blockade durch Eigentumsinteressen. Kapitalistische Demokratie kann Sozialreformen nur zulassen, solange sie Profite nicht gefährden. Dass heute Pflege, Wohnen oder Altersvorsorge in Dauerkrise geraten, ist nicht „Trägheit“, sondern Ausdruck einer Ordnung, die Profit über Bedürfnisse stellt.
5. Biografie statt Struktur
Aly illustriert seine Thesen mit dem Aufstieg Goebbels’ aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Doch Faschismus lässt sich nicht über Einzelkarrieren erklären. Entscheidend war die Klassenkoalition: Kleinbürger und Absteiger mobilisiert durch NS-Propaganda, getragen und finanziert von Industrie, Militär, Bürokratie. Biografien sind wichtig für die Oberfläche der Geschichte, nicht für ihre Struktur.
6. Antisemitismus historisch fassen
Wenn Aly Antisemitismus als „immer schon da“ beschreibt, entpolitisiert er ihn. Antisemitismus ist keine anthropologische Konstante, sondern eine Krisenideologie: Er projiziert das Abstrakte – Kapital, Markt, Zins – auf „die Juden“. In Zeiten der Krise wird er zum Bindemittel, das soziale Spannungen kanalisiert. Wer ihn als „ewig“ versteht, verliert die Einsicht in seine gesellschaftliche Funktion.

7. AfD und Postfaschismus
Aly beruhigt: In der AfD gebe es keinen Hitler, keinen Goebbels. Formal stimmt das. Doch damit übersieht er die Transformation autoritärer Bewegungen. Die AfD ist keine faschistische Massenpartei der 1930er, sondern ein postfaschistisches Projekt: parlamentarisch verankert, medienwirksam, gespeist aus Abstiegsangst, Rassismus und nationalistischem Ressentiment. Ihre Funktion ist ähnlich: Krisen autoritär zu bearbeiten, Demokratie auszuhöhlen, Ungleichheit ideologisch abzusichern.
8. Demokratie im Kapitalismus
Aly verteidigt die „demokratische Mitte“. Doch diese Mitte ist selbst fragil, weil sie auf einer kapitalistischen Ordnung ruht, die Ungleichheit produziert. Demokratie endet dort, wo Eigentum beginnt. Faschismus war nicht das Resultat übersteigerter Demokratie, sondern das Abstreifen demokratischer Formen, um Kapitalinteressen in der Krise ungebremst durchzusetzen.
9. Die eigentliche Lehre
Aly will aus 1933 lernen. Doch seine Formel lenkt ab. Sie macht den Faschismus zu einem Problem mangelnder Reformfähigkeit, nicht zu einer strukturellen Krisenform des Kapitalismus. Die Lehre aus 1933 lautet nicht: Mehr Effizienz für die Mitte. Sondern: Demokratie bleibt leer, solange soziale Krisen ungelöst bleiben – und diese Krisen entstehen im Kapitalismus selbst.
Damit steht am Ende eine klare These:
Faschismus war keine Fehlleistung der Demokratie, sondern eine kapitalistische Krisenlösung – nach innen durch Zerschlagung sozialer Bewegungen, nach außen durch imperialistische Expansion.
Zum Interview, in dem sein neues Buch vorgestellt wird:
https://www.spiegel.de/.../goetz-aly-kann-noch-einmal...
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