Venezuela nach Chávez – Vom bolivarischen Traum zur neoliberalen Restauration
Oder, warum der venezolanische “Sozialismus des 21. Jahrhunderts” an sich selbst zerbrach
von Sascha Schlenzig
Der Friedensnobelpreis 2025 ging an María Corina Machado, eine konservative Oppositionspolitikerin, die sich offen auf Donald Trump beruft. In westlichen Medien gilt sie als Symbol für Mut und Demokratie. Für viele Linke dagegen markiert ihre Auszeichnung eine politische Umkehr:
Ein Zeichen dafür, dass „Demokratie“ heute als Deckbegriff für eine neue neoliberale Ordnung dient – eine Ordnung, die den Sturz linker Regierungen feiert, aber soziale Ungleichheit und US-Einfluss verschweigt.
Dass Machado international geehrt wird, zeigt zweierlei:
den Zusammenbruch der venezolanischen Revolution –
und die ideologische Umdeutung von „Frieden“ in den Zentren der Macht.
Das Scheitern des bolivarischen Projekts wird genutzt,
um die Idee sozialer Befreiung insgesamt zu diskreditieren.
Gerade deshalb braucht es eine nüchterne linke Analyse:
nicht zur Verteidigung des Regimes, sondern um zu verstehen, warum es gescheitert ist.
Ein Projekt der Hoffnung
Als Hugo Chávez 1999 Präsident wurde, sprach er von einer bolivarischen Revolution. Er wollte Gerechtigkeit für die Armen, Kontrolle über die Öleinnahmen und eine neue Demokratie.
Nach Jahrzehnten neoliberaler Elitenherrschaft sollte das Volk endlich regieren.
Zusammen mit Lula, Morales und Correa gehörte Venezuela zur Pink Tide – einer Welle linker Regierungen, die den Markt brechen und den Staat in Dienst der Mehrheit stellen wollten. Die Idee war einfach: Reichtum umverteilen, Armut bekämpfen, Teilhabe schaffen. Eine Wirtschaft, die den Menschen dient – nicht umgekehrt.
Doch der Traum wurde zur Falle. Die Revolution wurde von innen ausgehöhlt, bevor sie von außen angegriffen wurde.
Ölabhängigkeit als Grundproblem
Venezuela lebt fast ausschließlich vom Export von Erdöl.
Über 90 % der Devisen stammen aus diesem Sektor.
Chávez nutzte die hohen Preise der 2000er-Jahre, um Sozialprogramme zu finanzieren. Armut sank, das BIP wuchs, Hoffnung kehrte zurück.
Aber die Struktur blieb unverändert:
Kein Aufbau von Industrie, keine Diversifizierung, keine eigene Landwirtschaft. Als die Ölpreise ab 2013 fielen, stürzte das Land ab. Zwischen 2013 und 2020 schrumpfte die Wirtschaft um mehr als 70 %. Die Inflation erreichte 1 000 000 %. Heute leben über 90 % der Venezolaner:innen in Armut.
Staat statt Selbstorganisation
Chávez sprach von „Volksmacht“. Doch sie blieb vom Staat abhängig. Kommunen und Räte wurden vom Regierungsapparat kontrolliert. Kritik galt als Illoyalität, Loyalität als Tugend.
Es entstand keine aktive Hegemonie der Unterklassen,
sondern eine passive Zustimmung, die auf Subventionen beruhte.
Sozialismus ohne Selbstverwaltung wurde zu Verwaltung statt Befreiung. Eine Revolution, die den Staat stärkt, schwächt sich selbst.
Bürokratie, Korruption, Bonapartismus
Nach Chávez’ Tod 2013 übernahm Nicolás Maduro.
Er versprach Kontinuität, doch die Krise vertiefte sich.
Das Militär erhielt mehr Macht, die PSUV kontrollierte Justiz, Medien und Wirtschaft. Eine neue Elite lebte von Renten, Posten und Privilegien.
Marx nannte das Bonapartismus: Ein Staat, der über den Klassen zu stehen scheint, aber nur die Macht einer kleinen Bürokratie schützt.
So wurde die sozialistische Rhetorik zur Sprache der Macht –
und das Volk wieder zum Objekt der Politik und zunehmender Repression.
Ökonomische Fehlsteuerung
Feste Preise, mehrere Wechselkurse, riesige Subventionen –
das System schuf eine neue Schicht von Profiteuren.
Wer Beziehungen hatte, verdiente; wer arbeitete, verlor.
Der Schwarzmarkt ersetzte die Planwirtschaft.
Diese Verzerrungen waren keine Pannen, sondern Ausdruck des Klassencharakters des Staates: ein bürokratischer Kapitalismus, der sich sozialistisch nannte.
Der äußere Druck
Ab 2017 verschärften die USA ihre Sanktionen. Sie schnitten Venezuela von Devisen, Technologie und Krediten ab.
Das verschärfte die Krise, war aber nicht ihre Ursache.
Die Widersprüche begannen früher – in den Jahren des Ölbooms.
Eine marxistische Analyse muss beides halten: Imperialistische Einmischung kritisieren und die autoritäre Politik und die Wahlfälschungen von Maduro kritisieren,
Neue Abhängigkeiten
Als die Beziehungen zu den USA brachen, suchte Caracas neue Partner: Russland, China, Iran. China gewährte Kredite gegen Öl; Russland erhielt Zugriffsrechte auf Minen. Der “Antiimperialismus” wurde zur Fassade neuer Abhängigkeiten mit diktatorischen Regimen.

Hegemonieverlust und rechte Rückkehr
Der größte Verlust war nicht ökonomisch, sondern politisch.
Die Regierung verlor ihre Glaubwürdigkeit bei den unteren Klassen.
Viele Menschen, einst Träger der Revolution, wandten sich ab oder flohen. Über acht Millionen Venezolaner:innen haben seit 2014 das Land verlassen – die größte Migration in der Geschichte Südamerikas.
In dieses Vakuum traten konservative und rechte Kräfte.
María Corina Machado ist eine konservative Demokratin, ihre Stärke beruht nicht auf neuen Ideen, sondern auf dem Verfall des revolutionären Projekts. Kurz gesagt: Die Rechte siegte nicht, weil sie überzeugte – sondern weil die Linke aufhörte, glaubwürdig zu sein.
Selbstkritik der Linken
Viele Linke – in Europa wie Lateinamerika –
verteidigten die Maduro-Regierung zu lange.
Aus Angst, der Rechten in die Hände zu spielen,
wurden Kritik und Selbstreflexion verdrängt.
Doch Solidarität mit einem Volk ist keine Solidarität mit seinem Staat. Eine Linke, die Kritik als Verrat versteht,
verliert ihre Fähigkeit zur Erneuerung.
Was bleibt
Die venezolanische Erfahrung lehrt:
- Keine Revolution ohne Produktionsmacht.
Umverteilung ohne neue Produktion bleibt Umverteilung der Abhängigkeit.
- Kein Sozialismus ohne Demokratie
- Bürokratie zerstört Solidarität.
- Antiimperialismus darf keine Ausrede für Repression sein.
Freiheit und Demokratie ist die Voraussetzung für Sozialismus
- Linke Politik braucht Bildung, Organisation, Hegemonie.
Sonst wird sie Symbolpolitik.
- Eine neue Linke muss international denken und handeln
- Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts kann nicht national bleiben – er muss globale Machtverhältnisse angreifen: ökonomisch, ökologisch, digital und die nationale Politik grundlegende überwinden
Fazit
Venezuela zeigt, wie schnell eine Revolution in ihr Gegenteil umschlägt, wenn sie den Staat stärkt statt die Menschen.
Die Zukunft linker Politik hängt davon ab,
ob sie wieder lernt, Gegenmacht von unten zu organisieren –
nicht als Gnade des Staates, sondern als Praxis der Freiheit.
Freiheit ohne Gleichheit bleibt Privileg.
Gleichheit ohne Freiheit wird zur Kontrolle.
Sozialismus muss beides sein – oder gar nichts.“
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