Warnschüsse aus dem Ruhrgebiet – Die NRW-Kommunalwahl und der autoritäre Drift

Es war kein Betriebsunfall. Die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen ist ein politisches Beben, das weit über den Rhein und die Ruhr hinausweist. Mit 14,5 Prozent zieht die AfD in fast alle Räte ein, verdreifacht ihr Ergebnis, und gewinnt in drei Städten sogar den Einzug in die Stichwahlen um das Oberbürgermeisteramt. Die CDU bleibt stärkste Kraft, die SPD taumelt, die Grünen verlieren an Strahlkraft. Nur punktuell gelingt es der Linken, zweistellige Ergebnisse zu erzielen – dort, wo sie die soziale Frage in den Mittelpunkt stellt.
Bernhard Sander hat in seiner Analyse in Sozialismus treffend beschrieben, wie sich der Wahlkampf verschoben hat: weg von den eigentlichen Alltagsproblemen – Mieten, Infrastruktur, Bildung – hin zu einem Sicherheits- und Ordnungskonflikt, den CDU und SPD bereitwillig orchestrierten. Wer Wohnungen sprengt, um Armutsmigration zu „lösen“, statt sozialen Wohnungsbau zu betreiben, legt der AfD die Steilvorlage. Wer Verwahrlosung beklagt, statt Investitionen in Kitas und Schulen zu organisieren, verschiebt die Debatte auf den Resonanzboden der Rechten.
Die SPD als Gespenst ihrer eigenen Geschichte
Das Ruhrgebiet, einst Herzkammer der Sozialdemokratie, ist heute ihr politisches Grab. 22,1 Prozent – so wenig wie nie. Die Partei, die in den 1960er- und 70er-Jahren Universitäten baute und den Strukturwandel gestaltete, ist zu einem gespenstischen Schatten ihrer selbst geworden. Sander spricht von „hirntot“ – eine drastische, aber zutreffende Diagnose. Statt Klassenpolitik zu machen, flüchtet sie in die Rhetorik der „hart Arbeitenden“ und grenzt bewusst jene aus, die von Grundsicherung, prekären Jobs oder Minirenten leben. So zementiert sie die Spaltung, die sie angeblich bekämpfen will.
Die AfD als Deutungsmaschine
Es wäre oberflächlich, die AfD als „neue Arbeiterpartei“ zu deuten. Sander warnt zurecht: Ihr Erfolg speist sich nicht aus einer klassenpolitischen Alternative, sondern aus einer Deutungshegemonie der Ressentiments. Sie kanalisiert den Frust über miese Wohnungen, bröckelnde Brücken und unterfinanzierte Schulen in Feindbilder. Dass sie vor allem unter 35- bis 59-Jährigen zulegte – also den aktiven Erwerbstätigen –, verweist auf ein Vakuum, das zur Zeit die AfD füllt. Ohne jedoch Politik für die Verbesserung der arbeitenden Klasse anzubieten.
Die CDU als Architektin des Diskursraums
Sander legt den Finger auf einen entscheidenden Punkt: Die CDU macht die AfD stark, nicht trotz, sondern wegen ihrer Strategie. Indem sie den Wahlkampf auf Sicherheit und Sauberkeit fokussiert, indem sie „Fehlanreize“ in den Sozialsystemen beschwört, rückt sie das Politische nach rechts. Das Ergebnis: Ein Diskursraum, in dem Ressentiments blühen können, während soziale Alternativen marginalisiert werden.
Inseln des Widerstands
Und doch: Es gibt Ausnahmen. In Köln, Bielefeld, Münster gelingt es der Linken, zweistellig zu werden. Warum? Weil sie die Mieten ins Zentrum stellt. Weil sie nicht vom „Sozialbetrug“ redet, sondern von der Profitlogik der Wohnungskonzerne. Weil sie die Alltagssorgen ernst nimmt und sie mit politischer Organisierung verbindet. Sander zeigt, dass dies kein Zufall ist, sondern der einzige Weg: Wo Klassenpolitik konkret wird – bei Wohnen, Infrastruktur, Bildung –, wächst die Zustimmung.
Was eine Verbesserungspolitik wäre
Die Frage ist, wie aus diesen Inseln mehr werden kann. Hier setzt das Konzept der Verbesserungspolitik an – Reformen nicht als Systemstabilisierung, sondern als Teil einer Strategie der Klassenorganisierung. Es geht um sofort spürbare Verbesserungen im Alltag:
- Wohnen: kommunaler Wohnungsbau, Vergesellschaftung leerstehender Bestände, klare Mietobergrenzen.
- Infrastruktur: Investitionen in Schulen, Kitas, ÖPNV und Brücken, finanziert durch Umverteilung von Rüstungsetats.
- Soziale Sicherung: kommunale Programme für Alleinerziehende, Arbeitslose und Rentner:innen in Armut – als Gegengift gegen Spaltung.
- Arbeit: Tarifbindung bei allen kommunalen Aufträgen, Unterstützung lokaler Gewerkschaften.
- Antirassismus: Schutzprogramme gegen Diskriminierung in Wohnungs- und Arbeitsmarkt, statt Law-and-Order-Politik.
Das sind keine abstrakten Forderungen. Sie zielen auf das Herz der kommunalen Realität und verbinden Alltagssorgen mit der Eigentumsfrage. Jede erkämpfte Verbesserung – eine Wohnung weniger im Eigentum von Spekulanten, ein Euro mehr für die Kita statt für Panzer – zeigt, dass die Gesellschaft anders organisiert werden könnte.
Die autoritäre Versuchung
Die eigentliche Gefahr der NRW-Wahl liegt nicht in den Zahlen allein, sondern in der Tendenz. Der bürgerliche Staat stabilisiert seine Legitimität nicht mehr über Sozialintegration, sondern über Repression. Sicherheit ersetzt Gerechtigkeit, Ordnungspolitik ersetzt soziale Gestaltung. Sander spricht hier von einer Ausweitung des Diskursraums der Rechten – man könnte auch von einem Drift in Richtung autoritärer Politik sprechen, die nicht im Putsch, sondern im Alltag beginnt.
Fazit
Die Kommunalwahl in NRW ist ein Lackmustest für die Zukunft: Entweder gelingt es der Linken und ihren Bündnispartner:in, die soziale Frage zurück in den Mittelpunkt zu stellen, oder die AfD wird weiter wachsen. Die Warnschüsse sind gefallen.
Link:
https://www.sozialismus.de/.../wie-viele-warnschuesse.../
(c) Kritik & Praxis – Verstehen. Hinterfragen. Verändern
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