Warum Positivisten die Dialektik nicht verstehen – und warum das kein Zufall ist
Immer wieder kommt in Diskussionen das gleiche Muster: Dialektik sei „metaphysisch“, „unwissenschaftlich“, ein tautologisches Spiel mit Begriffen. Ich nehme diese Einwände ernst und antworte darauf.
Kritiker forderrn, dass jede wissenschaftliche Aussage falsifizierbar sein müsse, also durch ein singuläres Faktum widerlegt werden könne. Alles andere sei Metaphysik.
Das klingt streng, sauber, objektiv – aber es setzt eine bestimmte Vorstellung von Wissenschaft voraus: den Positivismus. Für ihn ist Wissenschaft Beobachtung, Messung, Korrelation. Wer so denkt, muss Dialektik für Unsinn halten. Denn Dialektik lässt sich nicht auf „immer-wenn-dann“-Sätze reduzieren.
Zwei Wissenschaftsbegriffe
Der Kern des Problems: Dialektik und Positivismus beruhen auf verschiedenen Wissenschaftsverständnissen:
- Positivismus: Wissenschaft heißt Hypothesen aufstellen, operationalisieren, messen, falsifizieren. Alles, was nicht in dieses Schema passt, fällt heraus.
- Dialektik: Wissenschaft heißt historische Prozesse als bewegte Ganzheiten zu begreifen, innere Gegensätze sichtbar zu machen, Krisen und Brüche zu erklären. Sie arbeitet nicht mit singulären „Tests“, sondern mit Rekonstruktionen von Prozessen und Strukturen.
Ein Beispiel:
Ein Positivist fragt: „Steigen die Mieten immer, wenn die Nachfrage zunimmt?“ und sucht eine statistische Korrelation.
Ein Dialektiker fragt: „Warum erzeugt das Verhältnis von Kapitalanlage, Wohnungsmarkt und Löhnen strukturell Wohnungsnot?“ – und erkennt darin den Widerspruch zwischen Gebrauchswert (Wohnraum für Menschen) und Tauschwert (Immobilien als Anlageobjekt).
Warum „Widerspruch“ mehr ist als ein Wort
Kritiker werfen ein: Der Begriff „Widerspruch“ sei nur eine Metapher, man könnte genauso gut „Konflikt“ sagen. Aber genau das verkennt die Pointe. Marx spricht von realen Doppelcharakteren:
- Ware: zugleich Gebrauchswert und Tauschwert.
- Arbeit: zugleich konkrete Arbeit und abstrakte Arbeit.
- Kapital: zugleich Wert, der sich verwertet, und gesellschaftliches Verhältnis zwischen Klassen.
Diese Doppelcharaktere sind nicht bloße Definitionen. Sie haben empirische Folgen:
Überproduktion, Krisen, Ausbeutung. Wer sie nur als sprachliche Etiketten behandelt, verpasst, dass sie die inneren Spannungen realer Formen benennen.

Neutralität oder Kritik?
Kritiker sagen: Sozialwissenschaft hat zwar immer Implikationen, aber ihre Aufgabe sei nicht, politische Forderungen aufzustellen. Richtig. Aber die Frage ist: Beschreibe ich Armut als individuelles Versagen oder als strukturelles Klassenproblem? Diese Entscheidung ist nicht neutral. Dialektik zwingt, gesellschaftliche Phänomene nicht isoliert, sondern in ihren Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu sehen. Sie ist damit notwendigerweise kritisch.
Der Positivismus dagegen beruft sich auf Wertfreiheit. Aber diese „Neutralität“ ist selbst politisch. Sie legitimiert den Status quo, weil sie Konflikte als bloße Variablen behandelt, nicht als Ausdruck von Herrschaft. Marxisten kritisieren daher den Positivismus nicht nur als erkenntnistheoretisch beschränkt, sondern auch als ideologisch funktional: Er blendet Klassenverhältnisse aus und erscheint gerade dadurch „objektiv“.
Geschichte gegen Gesetz
Ein weiterer Unterschied: Positivisten suchen Gesetze – „immer-wenn-dann“-Aussagen. Dialektik arbeitet mit Geschichtlichkeit. Sie fragt: Warum zerbricht der Feudalismus? Warum entsteht Kapitalismus? Warum kehrt Krise im Kapitalismus wieder? Das sind keine zeitlosen Gesetze, sondern historische Prozesse. Für Positivisten sind sie daher nicht „wissenschaftlich“. Für Marxisten sind sie das einzig Wissenschaftliche, weil Gesellschaft eben geschichtlich ist.
Empirie ohne Dialektik ist blind
Kritiker betonen zu Recht: Empirische Forschung braucht Definitionen, Operationalisierungen, Messmethoden. Aber ohne Theorie bleiben das Zahlen. Dialektik liefert nicht Inhalte „von außen“, sondern eine Fragelogik: Suche die inneren Gegensätze, die Instabilität erzeugen. Genau das unterscheidet reine Statistik von kritischer Gesellschaftstheorie.
Beispiel:
- Statistik sagt: 20 % der Menschen leben in Armut.
-'Dialektik fragt: Warum produziert ein System mit Überfluss gleichzeitig Armut? → Antwort: weil Reichtum und Armut zwei Seiten desselben kapitalistischen Widerspruchs sind.
Warum Positivisten Dialektik nicht verstehen
Es ist also kein Zufall, dass Kritiker Dialektik für tautologisch hält. Ihr Raster von Wissenschaft erlaubt nur Hypothesen, die empirisch getestet werden können. Alles andere erscheint ihm als Sprachspiel.
Dialektik dagegen sprengt genau dieses Raster:
Sie ist historisch, kritisch, widersprüchlich. Sie lässt sich nicht auf Falsifikation im Labor herunterbrechen. Deshalb wirken ihre Sätze im positivistischen Raster wie Glaubenssätze – obwohl sie in Wahrheit Methoden zur Rekonstruktion von Prozessen sind.
Fazit: Zwei Rationalitäten
Positivisten verstehen Dialektik nicht, weil sie nach naturwissenschaftlichem Modell messen wollen, wo es um historische Totalitäten geht. Dialektiker kritisieren den Positivismus, weil er Herrschaftsverhältnisse verdeckt, indem er nur Variablen zählt.
Die marxistische Dialektik ist kein Ersatz für Empirie, sondern deren kritisches Fundament. Sie liefert nicht singuläre Prognosen, sondern zeigt die Struktur: dass Gesellschaft an ihren eigenen Gegensätzen arbeitet. Das ist keine Tautologie, sondern die Bedingung, überhaupt Krisen, Revolutionen und Transformationen zu verstehen.
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