Was Bensaïd wirklich sagt. Zeit, Strategie, Ideologie – der unzeitgemäße Marx als Theorieprojekt

Was, wenn die Revolution nicht zu spät kommt – sondern wir zu langsam denken?

Als ich Daniel Bensaïd zum ersten Mal las, spürte ich etwas Ungewohntes: Marx sprach nicht von gestern. Er sprach von einer Gegenwart, die noch nicht begonnen hatte. Und von einer Zukunft, die nur dann kommt, wenn man sich ihr in den Weg stellt.

Denn Der unzeitgemäße Marx ist kein Buch über Marx, sondern ein Buch mit Marx. Kein Denkmal, sondern eine Kampfansage. Kein System, sondern ein Risiko.

Zeit als politische Kategorie

Bensaïd beginnt mit einem scheinbar einfachen Gedanken: Der Kapitalismus produziert eine spezifische Zeit. Homogen, abstrakt, verwertungsorientiert. Die Zeit der Lohnarbeit, der Deadline, der Taktung. Und Marx, so zeigt Bensaïd, analysiert nicht nur Kapitalströme – sondern die Formen gesellschaftlicher Zeit.

> „Die Zeit wird zur Matrix der Ausbeutung – der Kalender ersetzt den Kompass.“

Bensaïd nennt das Chronopolitik: die Erkenntnis, dass Zeitordnung Klassenordnung ist. Die bürgerliche Zeit suggeriert Gleichmaß, Fortschritt, Planung. Revolution hingegen – sie ist Unterbrechung, Sprung, Kairos.

Gegen Determinismus – für Entscheidung

Eines der wichtigsten Anliegen Bensaïds: Marx ist kein Determinist. Geschichte folgt keinem Schema. Es gibt keine Notwendigkeit – nur Konstellationen, Kräfteverhältnisse, entscheidbare Momente. Deshalb ist Strategie für Bensaïd kein Organigramm, sondern die Kunst des Eingreifens.

> „Strategie ist die Form, in der Zeit zur Entscheidung wird.“

Er bringt Marx in ein Gespräch mit Lenin, Luxemburg und Gramsci – nicht um eine Synthese zu bauen, sondern um ihre Spannungen offen zu halten: Spontaneität vs. Organisation, Bruch vs. Hegemonie, Disziplin vs. Offenheit.

Wo die Linke heute zwischen Aktivismus und Abwarten taumelt, fordert Bensaïd: strategisches Denken – im Wissen, dass es keine Garantie gibt. Nur Chancen. Und Mut.

Ideologiekritik: Entlarvung der Form

Marx ist für Bensaïd kein Wirtschaftstheoretiker, sondern ein Kritiker des Sichtbaren. Seine Analyse der Ware, des Eigentums, der Freiheit ist kein technisches Modell – sondern eine Enthüllung gesellschaftlicher Illusionen.

„Die Form ist der Schleier der Herrschaft – und ihre Achillesferse.“

Deshalb ist Marx für Bensaïd ein ideologischer Entzauberer: Er zeigt, wie das, was als natürlich erscheint, in Wahrheit historisch gemacht ist. Der freie Tausch? Eine maskierte Zwangsbeziehung. Das Eigentum? Gewalt in Vertragsform.

Diese Ideologiekritik ist zentral – gerade heute, wo Eigentum wieder als Schicksal, Ungleichheit als Talent und Freiheit als Konsum erscheint.

Im Streit mit der Postmoderne

Bensaïd nimmt Derrida, Foucault und Lyotard ernst – und kritisiert sie zugleich. Er lehnt nicht die Dekonstruktion ab, aber er fordert Konsequenz: Wer dekonstruiert, muss auch handeln. Wer das Subjekt auflöst, darf nicht das Kollektiv vergessen. Wer Geschichte relativiert, entmachtet das Eingreifen.

„Dekonstruktion ohne Entscheidung ist Ästhetik des Aufschubs.“

Für Bensaïd reicht es nicht, Bedeutungen zu verschieben oder Wahrheiten zu verflüssigen. Er verlangt eine Theorie, die sich zur Praxis bekennt. Keine neue Orthodoxie, sondern eine Verpflichtung zur Entscheidung.

Denn wer alles relativiert, kann nichts verändern.

Hoffnung – als Methode, nicht als Gefühl

Am radikalsten ist Bensaïd vielleicht dort, wo er über Hoffnung spricht. Nicht als Trost, sondern als Zumutung. Eine Hoffnung, die nicht verspricht, sondern aufruft.

Eine Praxis ohne Garantie, aber mit Richtung.

„Revolutionäre Hoffnung beginnt dort, wo Gewissheiten enden.“

Für ihn ist Hoffnung kein Licht am Ende des Tunnels – sondern der Wille, den Tunnel selbst zu sprengen.

Fazit für Kritik & Praxis

Daniel Bensaïd denkt Marx weiter – nicht als Prophet, sondern als Werkzeug.

Der unzeitgemäße Marx ist ein Theorieprojekt, das nicht nur analysiert, sondern herausfordert:

  • zu denken, zu zweifeln, zu unterbrechen – und zu handeln.

Wer heute ernsthaft über Geschichte, Entscheidung und Organisation nachdenkt, kommt an diesem Buch nicht vorbei.

Und wer bereit ist, sich einzumischen, sollte es zweimal lesen.

Der unzeitgemäße Marx (2014):

https://www.neuerispverlag.de/verweis.php?nr=176

(c) Kritik & Praxis - Verstehen. Hinterfragen. Verändern

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