Weder Mullahs noch Marschflugkörper

Warum die Kritik am israelischen Angriff auf den Iran nicht bedeutet, das iranische Regime zu verteidigen

Am Morgen des 13. Juni 2025 durchbrachen israelische Kampfjets den iranischen Luftraum. Mit hunderten Raketen wurden Atomanlagen, Luftabwehrstellungen und Kommandozentralen zerstört – ein Präventivschlag, wie ihn Premierminister Netanjahu nannte, „zur Wahrung nationaler Sicherheit“. Doch war es wirklich Verteidigung – oder die Wiederholung eines alten Musters, das unter der Rhetorik der Bedrohung hegemoniale Interessen tarnt?

Die reaktionäre Realität des Iran – kein Freibrief für den Krieg

Zweifellos: Der Iran ist ein autoritärer Staat mit patriarchaler Struktur, massiver Repression gegen Frauen, Minderheiten und Opposition. Die religiöse Diktatur unter Ajatollah Khamenei ist ein Feind der Emanzipation. Die Drohungen gegen Israel, die Unterstützung militanter Gruppen in Syrien, Jemen und Libanon – all das ist reale Gewalt, keine rhetorische Fußnote.

Aber: Der Besitz autoritärer Herrschaft ersetzt nicht die Faktenlage. Und diese zeigt: Der Iran hat keine Atomwaffen. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) hat mehrfach bestätigt, dass Iran zwar über angereichertes Uran verfügt, aber nicht die notwendigen Schritte zur militärischen Nutzung unternommen hat. Dennoch wird das Land ständig sanktioniert, sabotiert – und nun bombardiert.

Israels nukleares Monopol – Doppelmoral als Strukturprinzip

Israel hingegen besitzt Atomwaffen – zwischen 80 und 200 Sprengköpfen – und verweigert jede internationale Kontrolle. Es ist nicht Mitglied des Atomwaffensperrvertrags (NPT), lässt keine IAEA-Inspektionen zu, betreibt sein Arsenal im Schatten. Und doch: Kein Embargo, keine Sanktionen, keine völkerrechtliche Kritik. Die westliche Welt sieht weg – oder schaut gezielt darüber hinweg.

Diese doppelte Norm ist keine technische, sondern eine politische. Die westliche Ordnung erkennt das Recht auf Abschreckung nur sich selbst und ihren Verbündeten zu. Pakistan? Geduldet. Indien? Integriert. Nordkorea? Sanktioniert. Libyen? Zerbombt. Iran? Belagert. Die Atombombe wird nicht als solche verurteilt, sondern abhängig davon, wer sie besitzt – und wozu. Wenn nur die Freunde der Supermächte Waffen haben dürfen, ist Abrüstung keine Frage des Rechts, sondern eine Funktion geopolitischer Macht.

Präventivkrieg als imperiale Option

Was Israel als „Selbstschutz“ deklariert, ist völkerrechtlich eindeutig: Ein Präventivkrieg ist verboten, solange keine unmittelbare Bedrohung besteht. Doch genau diese Schwelle wird im hegemonialen Sicherheitsdiskurs permanent gesenkt. Eine unterstellte Absicht, ein hypothetischer Zeithorizont, eine aggressive Rede – all das reicht bereits, um die Logik der Notwehr zu beanspruchen.

So wird die „präventive Selbstverteidigung“ zur ideologischen Rechtfertigung für eine militärische Strategie, die tatsächlich auf regionaler Hegemonie beruht. In der imperialen Sicherheitsarchitektur – analysierbar bei Gramsci und Foucault – wird Sicherheit zum exklusiven Privileg der Machtzentren. Nicht das Recht entscheidet, sondern die Kontrolle über seine Auslegung. Präventivkriege beginnen mit der Annahme, das Andere sei gefährlich – nie mit der Frage, wie gefährlich man selbst geworden ist.

Im Juni 2025 veröffentlichte die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) einen Bericht, wonach der Iran etwa 409 Kilogramm auf 60 % angereichertes Uran besitzt – eine Menge, die theoretisch zur Herstellung mehrerer Atomwaffen dienen könnte. Doch die IAEA betonte ausdrücklich: Es gibt keine Hinweise darauf, dass der Iran den letzten Schritt zur waffenfähigen Anreicherung auf über 90 % oder zur Bombenkonstruktion tatsächlich eingeleitet hat. Das bedeutet: Die Bedrohung besteht nicht in der Existenz einer Bombe, sondern im bloßen technischen Potenzial. Selbst ein solches Potenzial jedoch rechtfertigt keinen Präventivkrieg – auch nicht aus Sicht des Völkerrechts, das den Beweis einer unmittelbaren Gefahr voraussetzt.

Der israelische Premierminister Netanjahu erklärte dennoch öffentlich, „die Welt müsse jetzt handeln“, und verwies dabei auf die technische Nähe Irans zur Bombe. Er übersetzt einen hypothetischen technologischen Zustand in einen moralischen Imperativ zum Handeln – während sein eigenes Land über ein Arsenal realer Nuklearsprengköpfe verfügt. Diese Instrumentalisierung technischer Zwischenstufen zu strategischen Angriffsvorwänden markiert die Eskalation einer Sicherheitslogik, die nicht auf Regeln, sondern auf Vorherrschaft basiert.

Eine so massive Verletzung des Völkerrechts weckt nicht nur theoretische Bedenken, sondern provoziert auch institutionelle Ablehnung. Der Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, erklärte, solche Angriffe seien „tief besorgniserregend“ und betonte: Nuklearanlagen „dürfen niemals Ziel militärischer Aktionen sein“, weil sie atomare Sicherheit gefährden und die regionale wie globale Stabilität unterminieren. Damit wird deutlich: Nicht nur zwischen den Staaten herrscht Doppelmoral – auch normativ wird das Völkerrecht hier gebrochen, während es sonst als heilig gilt.

Israel als Vorposten – Iran als Störfaktor

Israel ist nicht einfach Akteur unter Gleichen, sondern Pfeiler westlicher Ordnungsmacht. Militärisch überlegen, diplomatisch gedeckt, nuklear unangreifbar. Das Monopol Israels auf nukleare Abschreckung ist keine Verteidigung – es ist geopolitische Funktion.

Der Iran hingegen ist ein Störfaktor im imperialen Weltmarktregime. Trotz autoritärer Innenpolitik: Der Versuch, sich dem totalen Zugriff westlicher Institutionen zu entziehen, macht ihn zur Zielscheibe. In der Sprache Samir Amins: ein Staat im Modus des „delinking“ – also des partiellen Rückzugs von globaler Unterordnung.

Die Gewalt begann vor dem Krieg

Die Raketen vom Juni 2025 sind der härteste Ausdruck einer jahrzehntelangen Eskalation. Doch sie sind nicht der Anfang. Strukturelle Gewalt – Sanktionen, Cyberangriffe, Attentate, Isolierung – wirkte längst. Der Angriff ist kein spontaner Reflex, sondern das Resultat einer Strategie permanenter Belagerung.

Zwischen Teheran und Tel Aviv: die dritte Position

Wer den Angriff Israels kritisiert, verteidigt nicht das iranische Regime. Wer die Repression im Iran anprangert, rechtfertigt keine Bomben. Die Alternative liegt nicht in der Wahl zwischen zwei Herrschaftsblöcken, sondern in der Parteinahme für eine dritte Kraft:

- Die mutigen Frauen auf Irans Straßen.

- Die Antikriegsbewegung in Israel.

- Die kurdischen Räte in Rojhilat.

- Die demokratische Opposition im Exil.

Unsere Solidarität gilt nicht den Staaten – sondern den Menschen, die zwischen ihnen zerrieben werden.

Was bleibt: Kritik statt Lagerdenken

Der israelische Angriff war kein Akt legitimer Selbstverteidigung, sondern eine geopolitische Machtdemonstration unter dem Banner nuklearer Exklusivität. Der Iran ist kein Hoffnungsträger, aber auch kein Freiwild.

Nein zum Präventivkrieg. Nein zur Doppelmoral. Nein zur Rüstung. Nein zur Repression.

Ja – zur dritten Position: solidarisch, antiimperialistisch, emanzipatorisch.

(c) Kritik & Praxis - Verstehen. Hinterfragen. Verändern

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