„Zu viel. Zu laut. Zu empfindlich.“ – Neurodivergenz als Widerstand gegen die Normgesellschaft

„Zu viel. Zu laut. Zu empfindlich.“ – Neurodivergenz als Widerstand gegen die Normgesellschaft

Ein Essay über Jenara Nerenbergs „Divergent Mind“ – und die politische Kraft des Andersseins

Von Sascha Schlenzig

Sie fiel nicht auf. Sie funktionierte. Sie lächelte. Und sie brach zusammen. Jenara Nerenberg war erfolgreich, gebildet, gesellschaftlich integriert – und innerlich zermürbt. Jahrelang hatte sie sich gefragt, warum sie sich „anders“ fühlte. Warum Lichter sie erschlugen. Warum Gespräche zu viel wurden. Warum sie sich erschöpfte in einer Welt, die andere scheinbar mühlos bewältigten.

Die Diagnose kam spät: ADHS, sensorische Hochsensibilität, autistische Züge. Und mit ihr kam ein zweites Leben – eines mit Sprache, Erklärbarkeit, Identität. Divergent Mind, das Buch, das sie aus dieser Erfahrung schrieb, ist keine Selbsthilfelektüre. Es ist ein Manifest. Ein stiller Aufstand gegen die Diktatur der kognitiven Norm.

1. Das Normale hat eine Geschichte

Was heute als „auffälliges Verhalten“ gilt, war nicht immer und überall pathologisch. Die Idee eines konzentrierten, leistungsfähigen, sozial angepassten Subjekts ist Produkt moderner Disziplinierung – geformt durch Industrialisierung, Schulreformen, Kolonialverwaltung. In einer Welt, die Effizienz verlangt, wird Unruhe zur Störung, Reizoffenheit zur Schwäche, Nichtlinearität zur Abweichung.

Dabei ist Neurodivergenz keine Randerscheinung: Schätzungen zufolge gelten 15–30 % der Weltbevölkerung als neurodivergent. ADHS betrifft etwa 5–8 %, Autismus rund 1–2 %, Lernunterschiede wie Legasthenie bis zu 15 %. Hochsensible Menschen machen bis zu 20 % aus – oft ohne Diagnose, aber mit vollem Anpassungsdruck.

2. Unsichtbar durch Überanpassung

Nerenberg zeigt, wie besonders Frauen, queere Menschen und BIPoC oft durchs Raster fallen. Ihre Symptome sind internalisiert: Überanpassung statt Regelbruch, Rückzug statt Lautsein. Die Folge: viele leben ein Leben in Maskierung. Sie sind „normalisiert“ – bis sie ausbrennen.

In einer Gesellschaft, die auf Reibungslosigkeit getrimmt ist, leisten neurodivergente Menschen tagtäglich eine unsichtbare Zusatzarbeit: Reize ausblenden, soziale Codes imitieren, emotionale Erschöpfung kaschieren. Wer sich zurückzieht, wird als unsozial markiert. Wer aneckt, als schwierig. Wer ausfällt, als defizitär.

3. Die Diagnose als doppelte Klinge

Nerenberg beschreibt eindrücklich, wie entlastend eine späte Diagnose sein kann. Endlich Worte für das Unaussprechliche. Endlich das Gefühl: Ich bin nicht allein. Doch sie verschweigt nicht die Ambivalenz: Diagnosen erklären, aber sie begrenzen auch. Sie öffnen Türen zu Ressourcen, aber stabilisieren zugleich die Vorstellung von Abweichung.

Eine emanzipatorische Perspektive muss die Diagnose entmystifizieren: nicht als Endpunkt, sondern als Einstieg in die kollektive Infragestellung gesellschaftlicher Normen.

4. Warum die Zahlen steigen

In den letzten zwei Jahrzehnten ist ein massiver Anstieg von Autismus- und ADHS-Diagnosen zu beobachten. In den USA gilt inzwischen eines von 36 Kindern als autistisch. Auch bei Erwachsenen steigt die Zahl. Das liegt nicht (nur) an „mehr Krankheit“ – sondern an:

- besserer Diagnostik,

- wachsender Selbstidentifikation (v. a. in queeren, linken und feministischen Kontexten),

- überfordernden Gesellschaftsbedingungen: Reizüberflutung, ständige Verfügbarkeit, steigende Leistungsanforderung.

- Neurodivergenz wird sichtbarer, weil immer mehr Menschen sich weigern, ihr Anderssein als Defizit zu betrachten.

5. Kapitalismus, Funktionalität und Widerstand

Gesellschaftliche Inklusion erfolgt oft nur dort, wo sich Neurodivergenz ökonomisch verwerten lässt: als kreative Ressource im Start-up, als authentisches Element in Diversity-Kampagnen. Was aber mit jenen, die nicht performen können?

Die kritisch-marxistische Psychologie zeigt: Wer nicht funktioniert, wird nicht behandelt – sondern aussortiert. Nicht, weil er krank ist, sondern weil er in einer kapitalistisch normierten Gesellschaft scheinbar nicht produktiv ist.

Holzkamp würde sagen: Handlungsfähigkeit wird zur Anpassungsleistung – nicht zur Befreiung.

6. Neurodivergenz als utopisches Wissen

Nerenberg zeichnet die Umrisse einer anderen Gesellschaft: Wo Reizarmut ein Recht ist. Wo Konzentration nicht Voraussetzung für Anerkennung ist. Wo Nichtlinearität nicht als Störung gilt, sondern als Erkenntnisweg. Vielleicht ist Neurodivergenz eine subalterne Ressource unserer Zeit: unterdrückt, verspottet, pathologisiert – aber voller visionärer Kraft.

Fazit

Divergent Mind ist keine Therapieanleitung, sondern ein politischer Kompass. Für alle, die zu viel fühlen. Zu schnell denken. Zu intensiv leben. Die Antwort auf ihre Frage lautet: Nein, ihr seid nicht falsch. Die Welt ist zu eng. Das muss sich ändern.

(c) Kritik & Praxis - Verstehen. Hinterfragen. Verändern

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